Samstag, 21. September 2019

Die ethnische Vielfalt Indiens

 - Wie ist sie über die Jahrtausende entstanden?
- Wie hat sie sich über die Jahrtausende erhalten, bzw. verändert?
Nur einige wenige erste Eindrücke aus der gegenwärtigen Forschung

Vor zehn Jahren schrieben wir hier auf dem Blog vom "größten genetischen Experiment, das jemals am Menschen durchgeführt wurde". Dabei bezogen wir uns auf eine Studie des indischen Biologen Madhav Gadgil (geb. 1942) über "die Bedeutung des indischen Kastensystems hinsichtlich der evolutionären Anpassung" (1).

Diese Studie gab einen Eindruck von dem Zusammenleben und Aufeinander-Angewiesen-Sein der vielfältigen, traditionellen, endogam lebenden Stämme und Kasten in der indischen Gesellschaft. Sie gab auch einen Eindruck von der jeweilig recht einzigartigen ökologischen und wirtschaftlichen Spezialisierung und "Einnischung" jeder einzelnen Kaste und jedes einzelnen Stammes sowohl arbeitsteilig in die indische Gesamtgesellschaft, als auch in die jeweiligen natürlichen Lebensbedingungen und Klimazonen vor Ort. Dabei wurde klar: In Indien stellen gar nicht die Kasten, sondern die Stämme "das größte genetische Experiment am Menschen" dar.

Vor diesem Hintergrund ist es um so spannender, die damaligen Erkenntnisse und Überlegungen mit dem heutigen Stand der Archäogenetik in Abgleich zu bringen. Eine schöne, weil sehr, sehr "grobe" Übersicht über die derzeitigen Vorstellungen zur Ethnogenese der vielen hundert indischen Völkerschaften findet sich in einer Studie estnischer Humangenetiker aus dem Oktober 2018 (2, 3) (Abb. 1).


Abb. 1: Die Ethnogenese der indischen Völker (aus: 2) (a) vor 10 000 v. Ztr.; (b) 10 000 bis 3000 v. Ztr.; (c) 3000 v. Ztr. bis heute (Eisenzeit)

In der zweiten Grafik derselben (Abb. 1) ist dargestellt wie die Indus-Kultur (Wiki), hier "Indus Periphery" (IP) genannt, aus einer Vermischung von iranisch-neolithischen Herdenhaltern (IF) mit den Ureinwohnern Indiens (AASI) entstand, also mit jenen Ureinwohnern, deren Vorfahren schon vor 50.000 Jahren nach Indien zugewandert waren (Abb. 1, Grafik a)), die sich bis heute am unvermischtesten auf den Andamanen-Inseln erhalten haben. Was von Bedeutung ist: Die iranisch-neolithischen Herdenhalter hatten sich bis zur Entstehung der Indus-Kultur noch nicht mit anatolisch-neolithischen Bauern und Herdenhaltern oder Jägern und Fischern West- oder Osteuropas vermischt. Darauf hat jüngst eine Studie der Forschungsgruppe rund um David Reich im September 2019 hingewiesen (4) (Abb. 2). 



Abb. 2: (A) ....; (B) Vermischungs-Analyse von Individuen aus Süd- und Zentral-Asien mit Herkunftsanteilen von iranischen Bauern (orange), anatolischen Bauern (blaugrün), osteuropäischen Jägern und Sammlern (blau), westeuropäischen Jägern und Sammlern (grün), Andamanen/Südindien (rot)*); (C) .... (aus: 4)

Das Ergebnis dieser neuen Studie hatte sich aber - wenn wir es recht verstehen - schon in einer vorhergehenden Studie angedeutet (5, 6). Für den, der all diese Studien nicht im Detail verfolgen kann oder will, könnte aber insbesondere die dritte Grafik c) in Abbildung 1 von großem Interesse sein. (Abb. 1). Sie zeigt auf, daß sich nach 1000 v. Ztr. auch Völker der austroasiatischen Sprachgruppe (repräsentiert durch die Munda) und der tibeto-burmesischen Sprachgruppe nach Nordost-Indien ausbreiteten, und zwar nach der Zuwanderung der Indogermanen nach Indien von Nordwesten aus der Steppe heraus.

Mit all dem bekommt man einen ersten Eindruck davon, wie komplex die Ethnogenese der indischen Völker verlaufen ist. In der estnischen Studie wird noch auf Beobachtungen aufmerksam gemacht, die uns hier auf dem Blog ebenfalls schon häufiger wichtig waren, wenn es um die Entstehung (Ethnogenese) von Völkern, Stämmen und ethnischen Gruppen geht. Die Forscher schreiben (1):
Normalerweise ist die Sprachfamilie eine ganz gute Annäherung an die genetische Struktur von indischen Populationen. In einigen Fällen aber erweist sich eine solche Voraussage als spektakulär falsch. Die größte Stammesgruppe in Indien - die dravidisch-sprachigen Gond - scheinen mehr ihrer genetischen Herkunft mit den indischen Munda-Sprachigen zu teilen als mit anderen dravidisch-sprachigen Gruppen. Auf der anderen Seite sprechen die Muashar eine indoeuropäische Sprache aber stehen genetisch wiederum den Munda-Sprachlichen nahe. Dies sind Beispiele für Sprachwechsel, in denen eine Population eine neue Sprache annimmt aber viel von ihrer genetischen Herkunft beibehält, wobei die genetische Geschichte der Gond vermutlich noch komplexer ist. Gegensätzliche Beispiele liefern die Brahui, die eine drawidische Sprache beibehalten haben, während sie genetisch ihren geographischen Nachbarn in Pakistan gleichen, weit vom sonstigen geographischen Ausbreitungsgebiet der drawidischen Sprachen entfernt.
Original: While language family is generally a good proxy for genetic structure of South Asian populations, there are several cases where such prediction is spectacularly wrong. The largest tribal group in India - the Dravidic speaking Gond - seem to share more of their genetic ancestry with the Indian Munda speakers, rather than with the other Dravidian groups. On the other hand the Mushars speak a tongue from the Indo-European group, yet genetically are again similar to Munda speakers. These are examples of language change where a population adopts a new language but retains much of their genetic legacy, although the genetic history of the Gond is likely more complex. Contrary example is provided by the Brahui, who have retained Dravidic language while genetically they resemble their geographic neighbours in Pakistan, far from the geographic realm of Dravidic languages.
Von jüngeren Ethnogenesen in Indien können schon gut verstanden werden die der Siddis, der Muslime, der Juden und der Parsen. Die indischen Juden (Wiki) kamen im 5. und 10. Jahrhundert nach Indien. Die Siddis wurden von portugisischen Sklavenhändlern als Sklaven und Krieger an indische Sultane verkauft. Sie sind heute zu 70 % afrikanischer Herkunft. Verglichen mit diesen beiden Gruppen war die Vermischung der im 7. Jahrhundert aus Persien nach Indien gelangten Parsen mit einheimischen Indern minimal. Die Parsen stehen genetisch den neolithischen Iranern näher als den modernen Iranern, da es bei letzteren im Zusammenhang mit der Ausbreitung des Islam zu neuen Vermischungen gekommen ist.

Es deutet sich an, daß der indische Subkontinent noch eine Fülle weiterer allgemeiner Erkenntnisse zur Entstehung und zur Aufrechterhaltung von Völkern bereithalten kann, daß auf ihm eine große Vielfalt von "gruppenevolutionären Strategien" vergleichend und über viele Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg erforscht werden kann.

_________________________
*) Original: "(B) ADMIXTURE analysis of individuals from South and Central Asia shown with components in orange, teal, blue, green, and red maximized in Iranian farmers, Anatolian farmers, Eastern European hunter-gatherers, Western European hunter-gatherers, and Andamanese hunter-gatherers, respectively."

_________________________________
  1. Bading, Ingo: "Das größte genetische Experiment, das jemals am Menschen durchgeführt wurde". 16. Juli 2009, https://studgendeutsch.blogspot.com/2009/07/das-grote-genetische-experiment-das.html 
  2. The genetic makings of South Asia. By Mait Metspalu, Mayukh Mondal, Gyaneshwer Chaubey. In: Current Opinion in Genetics & Development (2018) 53:128-133, Available online 1 October 2018, https://doi.org/10.1016/j.gde.2018.09.003
  3. Quiles, Carlos: The genetic makings of South Asia – IVC as Proto-Dravidian, October 6, 2018, https://indo-european.eu/2018/10/the-genetic-makings-of-south-asia-ivc-as-proto-dravidian/ 
  4. An Ancient Harappan Genome Lacks Ancestry from Steppe Pastoralists or Iranian Farmers. Vasant Shinde, Vagheesh M. Narasimhan (...) David Reich. Published: September 05, 2019, DOI:https://doi.org/10.1016/j.cell.2019.08.048
  5. Vagheesh M Narasimhan et. al. (inkl. David Reich): The Genomic Formation of South and Central Asia. bioRxiv 292581; doi: https://doi.org/10.1101/292581 This article is a preprint and has not been peer-reviewed, 31.3.2018, https://www.biorxiv.org/content/early/2018/03/31/292581
  6. Bading, Ingo: "Söhne der Sonne" - Die Indogermanen Asiens. 1.7.2018, https://studgendeutsch.blogspot.com/2018/07/sohne-der-sonne-die-indogermanen-asiens.html 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen