Samstag, 25. November 2017

Kossinna lacht - er lacht und lacht und lacht ....

Neue Erkenntnisse aus der Archäogenetik zu den Eiszeitjägern, zum Mesolithikum, zum Neolithikum und zur Bronzezeit Europas
Völker machen die Geschichte - So lautet überall die Haupterkenntnis
Zusammenfassung: Was bisher in der Archäogenetik (Ancient DNA-Forschung) (s. 14, 15) überhaupt nicht klar war, war die Frage, woher nun eigentlich der typisch nordeuropäische Menschentyp herstammen sollte. Seit Mai dieses Jahres aber beginnt sich diese Verwirrung zu lichten (7, 8): Die blonde Haarfarbe findet sich schon 15.000 v. Ztr. bei Mammutjägern in Sibirien im Genom (7, 8). Ähnlich alt ist auch die blaue Augenfarbe, die aber zuerst bei den westeuropäischen Jägern und Sammlern der Villabruna-Kultur auftritt (18)***). Blonde Haare gab es bei den osteuropäischen Jägern und Sammlern, nicht aber bei den mittel- und westeuropäischen Jägern und Sammlern (7, 8). Die vorneolithischen Bevölkerungen in Ostmitteleuropa (vom Donauraum bis Lettland) und Skandinavien waren Mischbevölkerungen zwischen west- und osteuropäischen Jägern und Sammlern. Die blonde Haarfarbe gab es auch schon bei dem ausgestorbenen Ertebolle-Volk rund um den Ostseeraum (7, 8). Ebenfalls findet man bei ihnen helle Haut und blaue Augen. Die blonde Haarfarbe gab es dann auch schon - zumindest in Anteilen - bei den Urindogermanen (Yamnaya-Kultur) (7, 8). Nur wie hoch ihr Anteil bei den Trichterbecherleuten ist, darüber findet sich in der Literatur noch keine Angabe.
Mit der hier referierten neuen Studie (7, 8) wird deutlich, daß die Erforschung der Gen-Variante "rs12821256", die mit deutlich erhöhter Wahrscheinlichkeit einher geht, blonde Haarfarbe zu haben, viel beitragen wird zur Erhellung des Einflusses der Indogermanen und Germanen auf die Weltgeschichte überhaupt. Aber auch sonst wartet die neue Studie (7, 8) mit einer Fülle von Neuerkenntnissen auf, etwa zu der langen Stabilität der vorindogermanischen Bauernvölker in Ost- und Ostmitteleuropa, der eindrucksvollen Cucuteni-Kultur und der seit 3.100 v. Ztr. Rinderwagen besitzenden Kugelamphoren-Kultur.

Eine parodistische Einleitung 

[Nachtrag 28.11.17] Statt die folgende parodistische Einleitung zu schreiben, hätte der Verfasser vielleicht besser Anfang Juli 2017 auf den 9. Deutschen Archäologie-Kongreß nach Mainz fahren sollen und dort insbesondere an der "AG Theorien in der Archäologie (AG TidA e.V.)" teilnehmen sollen, deren diesjähriges Thema war: "Frage Migration! - Erkenntnistheorien, Argumente, Modelle, Paradigmen".

Abb. 1: Gustaf Kossinna, 1936 (zuerst 1927)

In den Zusammenfassungen der dort gehaltenen Vorträge (s. AG TidA, Programm 2017) wird schon recht schön deutlich, womit sich hier eine jüngere Archäologen-Generation gerade herumschlägt. Der Titel, den Sabine Reinhold (Berlin) für ihren Vortrag gewählt hat, ist so treffend, daß wir ihn auch für diesen Blogartikel hätten wählen können, anstelle des gewählten parodistischen. Denn er lautet so treffend wie durch und durch sachlich: "Völkerwanderung 2.0 oder Wieviel Biologie braucht der Transfer kultureller Praktiken". Schon dieser Titel ist voller Inhalt. Ganz am Ende des vorliegenden Blogartikels haben wir uns genau mit dieser Frage schon beschäftigt, bevor wir von dieser AG in Mainz erfahren hatten. In der Zusammenfassung hält sie lakonisch und richtig fest:

Es scheint doch auch biologische - oder vor allem biologische? - Verbindungen zwischen den Leuten zu geben, die etwa ihre Toten in derselben Form begraben oder eine vergleichbare Region bewohnen.

Ja, offenbar eine ungewohnte Blickrichtung für deutschen Archäologen des Jahres 2017. Nanu, kann denn so etwas sein? Wir verfallen immer gleich wieder in den unernsten Tonfall, wenn wir uns mit innerwissenschaftlichen Diskussionen heutiger deutscher Archäologen im Umfeld der neuen Ergebnisse der Archäogenetik befassen. Wir wollen es vermeiden. Es gelingt uns nicht. Es wird nämlich gleich noch schlimmer. Stefan Burmeister (Kalkriese) hielt einen Vortrag mit dem vielsagenden Titel: "Wolf im Schafspelz - Schaf im Wolfspelz? Prähistorische Mobilität im Fokus von Molekularbiologie und Archäologie". Laut Zusammenfassung möchte er den Wolf im Schafspelz (die Biologie und Genetik) am liebsten umwandeln zum Schaf im Wolfspelz. - - - Dazu muß der Wolf Kreide fressen, schießt einem als Gedanke durch den Kopf. Schlimm, man kann sich der Parodien kaum erwehren, wenn man den Gesprächen der Archäologen untereinander zuhört. Somit mißlingt auch dieser neue Versuch einer Einleitung zu dem folgenden Blogartikel.

In ihrem Vortrag "Gruppen in Genetik und Archäologie - Die Frage nach der Nomenklatur genetischer Cluster" hat Stefanie Eisenmann (Jena) ihr neues "Max Planck Harvard Research Center for the Archaeoscience of the Ancient Mediterranean" vorgestellt. In diesem will sie sich mit den Ergebnissen der neuen Archäogenetik auseinander setzen. Der verdiente Mainzer Archäogenetiker Wolfgang Haak versuchte dann - sicherlich als Wolf im Schafspelz - ganz viel Kreide zu fressen und sprach "Über Migrations- und Vermischungsnarrative der Archäogenetik". Ja, als wir mit diesem zweiten Versuch einer Einleitung ansetzten, hatten wir eigentlich auch noch die Absicht gehabt, Kreide zu fressen und wollten die bisherige parodistische Einleitung ersetzen. Nein, auch schon diese Zusammenfassungen liefern wieder Steilvorlagen aller Art für Parodien aller Art, so daß wir uns offenbar derselben tatsächlich in der Einleitung nicht enthalten können, bevor wir dann endlich einfach nur auf die Sachthemen zu sprechen kommen.

Abb. 2: Gustaf Kossinna im Gespräch mit Paul von Hindenburg, 27. August 1915 in Ostpreußen
(Abbildung aus Kossinna's Buch "Ursprung und Verbreitung ...", 1934, gleich neben dem Titelblatt)

Der Verfasser dieser Zeilen ist in sehr ausgesprochenem Masse ein Anhänger der "fröhlichen Respektlosigkeit" des Nobelpreisträgers Max Delbrück. Und auch im Doktorandenkreis von Max Delbrück hat man sich gerne gegenseitig parodiert. Auch in der Wissenschaft, so könnte man einmal festhalten anhand dieses Beispiels, sollte der Humor nicht zu kurz kommen. Sonst wird man humorlos und macht sich - vielleicht - vor der ganzen Welt lächerlicher als es einem selbst bewußt ist. Deshalb bleibt sie nun stehen, die erste Version unserer Einleitung, die wir vor drei Tagen schrieben. Auch den Titel lassen wir wie er ist. Obwohl beim Verfasser immer wieder der Wunsch aufkommt, in diesem Artikel auf Parodierendes, Unernstes zu verzichten.

***

Mit einem behaglichen und zugleich brachialen Gelächter, so schaut der alte Gustaf Kossinna (1858-1931) (Wiki), jener deutsche Archäologe, der die simple These aufgestellt hat, daß archäologische Kulturen Völker sind (Abb. 1) (Wiki), aus seinem Himmelsstübchen herab. Um dieser These willen war er seit 1945 von den deutschen Archäologen viel kritisiert worden, ja, mitunter ganz tabuisiert worden. Und nun lacht er aus seinem Himmelsstübchen herab, hinunter auf seine Nachfolger (1-3).

Ein Archäologe, Volker Heyd, hat ihn dabei beobachtet (2). Und er hat im April-Heft der Zeitschrift "Antiquity" der Welt davon berichtet ("Kossinna's smile") (2). So manche Archäologen dürfte er dabei im Gespräch miteinander belauscht haben.*) Und erst jetzt wird auch vielen anderen Archäologen allmählich bewußt, daß dieser alte Herr Gustaf Kossinna (Gustaf übrigens mit f, nicht mit v geschrieben) gar nicht in der Hölle schmort, wo sie ihn seit so vielen Jahren schon hingewünscht hatten, sondern daß er droben im sonnigen Archäologen-Himmel sitzt. Und daß er dort lacht und lacht und lacht ... (2, 3).

Er hatte lange stille gesessen dort oben im Himmel. Er hatte lange geschwiegen. Er hatte lange Zeit nur traurig den Kopf geschüttelt. Über die Verbiestertheit und Verklemmtheit seiner vielen Nachfolger. Aber in beschaulicher Betrachtung hat er sich die Weltenläufe hier unten angesehen. Und er wußte ja doch, daß seine Zeit letztlich noch kommen würde. Und siehe da - "ein Jahrhundert wie ein Wimpernschlag": Und schon war sie da, im Jahr 2015, seine Zeit. Und ganz, ganz leise, ganz, ganz sanft begann sich ein Schmunzeln auf seinem Gesicht auszubreiten, ganz sanft (1-6). Und allmählich fing er immer mehr an zu lächeln, allmählich mehr fing er sogar an zu lachen.

Monat für Monat kamen neue Ancient-DNA-Studien heraus. Und mit jeder neuen Studie, die herauskam, wurde sein Lachen lauter und breiter und immer lauter und immer behaglicher. Und neben ihm, da saß ein ähnlich vergessener alter Herr mit Namen Hindenburg, ein alter Knaster, Kriegshelden-Darsteller aus alter deutscher Heldenzeit, sein Freund (Abb. 2), vergrämt, verbittert und voller Mißtrauen gegenüber der Nachwelt. Und der wurde doch tatsächlich von dem Lachen seines Freundes Kossinna angesteckt. Und da lachten sie vereint. Und das Lachen wurde immer grausiger. Oh, so grausig.

Abb. 3: Gustaf Kossinna -
sein Nachname stammt aus Masuren
in Ostpreußen
Und jetzt schreiben wir schon das Jahr 2017. Monat für Monat kommen neue Ancient-DNA-Studien heraus. Kossinna und all die alten Kracher da oben im Himmel kommen gar nicht mehr nach mit dem Lesen, dem Studieren und mit dem Lachen. Ihr Lachen ist längst in ein schreckliches, furchtbares, brachiales, tösendes und tobendes Gelächter ausgeartet (7, 8). Dieser alte Kossinna da oben im Himmel, dieser Masure - "So zärtlich war doch sein Suleiken" (Wiki) - er führt Freudentänze auf und feiert Orgien, Orgien von Fröhlichkeit und Ausgelassenheit. Und sollte man es denken? Auch der alte Hindenburg hopst mit! Ja, wirklich. Er hopst mit! Und alle die Nachfahren von dem Kossinna, die deutschen Archäologen, sie stopfen sich - zutiefst erbost - die Ohren ob des ohrenbetäubenden Lärms da oben im Himmel.

Sie beginnen am Himmel selbst zu zweifeln, sie werden Ungläubige, Atheisten: Wenn selbst ein Kossinna in den Himmel kommt, wer ist dann noch davor gefeit, nicht auch noch mit ihm irgendwann im Himmel sitzen zu müssen? So fragen sie sich. Und sie rufen: Wahn, Wahn, die ganze Welt ist voller Wahn. Und sie werden ins Irrenhaus gesperrt .... Dort murmeln sie nur noch vor sich hin mit verdrehten Augen.

Dabei werden sich die jüngeren und geistig Beweglicheren unter deutschen Archäologen allmählich bewußt, daß sie eigentlich schon froh sein sollten, wenn ihnen der Gott der Wissenschaft nicht seine strafenden Blitze herab sendet auf ihr Haupt, um ihrer Jahrzehnte langen Verklemmtheiten und Verbiesterheiten willen, um derentwillen sie mit hohlem, politisch korrekten Uminterpretieren von Sachverhalten, die zu Tage lagen wie die helle Sonne, ständig so weiter gemacht hatten, Jahrzehnte lang, goutiert von allen Menschen, die "guten Willens sind" und die Völker nicht mehr Gedanken Gottes nennen können, sondern vom Teufel auf diese Erde gesandt, um Unfrieden zu stiften. Ach ja, die Welt ist wirklich nicht mehr so wie man sie sich wünschen möchte, so seufzen die Archäologen. Und wünschen sich zurück in die schöne Zeit der 1970er Jahre als ihre Welt, zumindest ihre Welt noch in Ordnung war ...**)

Blonde Haare, blaue Augen vor 17.000 Jahren in Sibirien

Nun aber Schluß mit lustig und Geschichten erzählen. Butter bei die Fische. Kommt man doch tatsächlich kaum noch hinterher damit, all die neuen Erkenntnisse aus der Ancient-DNA-Forschung auszuwerten, die schon vorliegen. Und wird man tatsächlich einigermaßen irre dabei, das alles auszuwerten, was da an Sturzflüssen über einen herein bricht. Englischsprachige Wissenschaftsblogs werten schon fleißig und regelmäßig aus. Aber auf deutschsprachigen Wissenschaftsblogs ist gähnende Leere und Funkstille zu verspüren (abgesehen von dem vorliegenden Blog). Wie gesagt: Alle Archäologie-Beschäftigten verstopfen sich hier in Deutschland die Ohren, sie wollen es nicht hören, sie wollen, wollen, wollen nicht. Aber schon im März 2017 ist im Preprint eine neue Ancient-DNA-Studie von David Reich und zahllosen Mitarbeitern erschienen "The Genomic History of Southeastern Europe" (7). Genom-Daten von 204 neuen, archäologisch gewonnenen Individuen Osteuropas werden ausgewertet und in Bezug gesetzt zum bisher schon Bekannten. Die vielleicht umwälzendsten Ergebnisse dieser Studie findet man im Anhang (8). Diese sollen zuerst referiert werden. Denn ihnen gegenüber sind die anderen, auch umwälzenden Ergebnisse noch überwälzender. Denn: Sogar die Herkunft der blonden Haarfarbe der Nordeuropäer scheint sich nun aufzuklären. Sie ist schon 17.000 Jahre alt (8):

Das evolutionär später entstandene Allel des KITLG SNP rs12821256 ist verbunden mit - und ruft wahrscheinlich hervor - blonde Haarfarbe bei Europäern und es liegt vor bei jeweils einem Jäger-Sammler aus Samara (Wolga), Motala (Schweden) und Ukraine ebenso wie bei mehreren späteren Individuen mit (indogermanischer) Steppen-Herkunft. Da das Allel in Populationen mit osteuropäischer Jäger-Sammler-Herkunft, nicht aber mit westeuropäischer Jäger-Sammler-Herkunft gefunden wird, ist damit nahegelegt, daß sein Ursprung in der Population der Ancient North Eurasian (ANE) zu finden ist. Im Einklang hiermit beobachten wir das früheste bekannte Individuum mit dem evolutionär später entstandenen Allel (bekräftigt durch zwei Lesungen) das ANE-Individuum Afontova Gora ist, das direkt datiert ist auf 16.000 v. Ztr..
Original: The derived allele of the KITLG SNP rs12821256 that is associated with - and likely causal for - blond hair in Europeans is present in one hunter-gatherer from each of Samara, Motala and Ukraine (I0124, I0014 and I1763), as well as several later individuals with Steppe ancestry. Since the allele is found in populations with EHG but not WHG ancestry, it suggests that its origin is in the Ancient North Eurasian (ANE) population. Consistent with this, we observe that the earliest known individual with the derived allele (supported by two reads) is the ANE individual Afontova Gora which is directly dated to 16130-15749 cal BCE (14710±60 BP, MAMS-27186: a previously unpublished date that we newly report here). We cannot determine the status of rs12821256 in Afontova Gora 2 and MA-1 due to lack of sequence coverage at this SNP.

Die blonde Haarfarbe tritt also nach derzeitigem Kenntnisstand zum ersten mal auf bei einem Individuum, das um 15.000 v. Ztr. bei Afontova Gora lebte. Es waren dies Mammutjäger, die am Jenissei bei Krasnojarsk in Sibirien lebten (Wiki), 4.100 Kilometer östlich von Moskau (Wiki). Dort finden seit 1912 Ausgrabungen statt. Die hier genannte Ausgrabungsstätte Samara steht für Vorfahren der Indogermanen (bzw. wohl schon für Indogermanen selbst), die Ausgrabungsstätte Motala in Mittelschweden (Anc. Orig. 2014, Academiasteht (vermutlich) für die Ertebolle-Kultur im Ostseeraum. In beiden Völkern gab es also Blonde. Und ebenso dann bei den Indogermanen selbst. Damit dürfte jetzt in Grundzügen die Ethnogenese der nordeuropäischen Völker zu verstehen sein. Solange die blonde Haarfarbe bei den osteuropäischen Jägern und Sammlern, bei den Ertebolle-Leuten und den Indogermanen nicht bekannt war, kam einem alles noch ein bisschen "spanisch" (will heißen: rätselhaft, verwirrend) vor. Von Interesse ist natürlich nun vor allem auch, ob es das C-Allel dieses SNP, das mit blonder Haarfarbe korreliert, auch schon bei den Trichterbecherleuten gab. Vielleicht wird künftig für die Betrachtung des Einflusses der Indogermanen und Germanen auf die Weltgeschichte rs12821256 auch sonst sehr erhellend sein. Schon jetzt findet man auf dem deutschen Wikipedia die nicht uninteressante Passage (Wiki):

Der blonde, hellhäutige und blauäugige Menschentyp (...) Nach antiker Quellenlage fanden sich solche Menschen auch in Nordafrika (Libysche Invasion in Ägypten 1227 v. Chr.), Zentralasien (Stamm der Yuezhi lt. chinesischer Quellen aus dem 2. Jh. v. Chr.) oder nördlich des schwarzen Meeres (Skythen nach Herodot, 5. Jh. v. Chr.).

Und auf dem englischen Wikipedia (Wiki) ist die Verbreitung von blonden Menschen in der griechischen und römischen Antike anhand von Kunstwerken und damaliger Literatur sogar schon überraschend ausführlich dokumentiert. Der griechische Dichter Homer beispielsweise nannte sehr viele Personen seiner Dichtung blond. Eine Fülle von antiken Darstellungen blonder Menschen in der Kunst ist auf dem Artikel dokumentiert (Wiki). Und bei der Durchsicht derselben erinnert man sich daran, daß die Verbreitung blonder Haare schon in den Büchern von Hans F. K. Günther eine nicht geringe Rolle spielte. Dort las man, daß siebzig Prozent der Menschendarstellungen auf den Wandmalereien in Pompeji hellhaarig waren. Und all diese Umstände zeigen, daß der spätantike Untergang indogermanischer Kulturen von den blonden Tocharern an der Seidenstraße über die Sogder und Perser bis zu den Griechen und Römern im Mittelmeerraum auch mit einer Veränderung der Häufigkeit eines bestimmten anthropologischen Typus einhergegangen ist. Das wird in den nächsten Jahren sicher auch noch deutlicher von der Ancient-DNA-Forschung aufgearbeitet werden.

/ Aktualisierung 11.8.2024: Auch hier ist wieder vieles zu revidieren. Die antiken Griechen hatten nur 8 Prozent Steppengenetik, also weniger als die heutigen Sarden auf Sardinien und werden in der Pigmentierung noch dunkler gewesen sein als die heutigen Sarden. Warum sie trotzdem so viele blonde Götter und Helden haben, muß etwas mit der ihnen ursprünglich fremden indogermanischen Kultur und Sprache zu tun haben, muß also aus einer Art Kontrastwertung heraus verstanden werden, so wie auch in Ostasien heute der blonde Europäer ein Schönheitsideal darstellt, obwohl er auf der Straße gar nicht zu finden ist. /  

Und da man ja zu allem immer auch noch einmal ein persönlicheres Verhältnis entwickelt, wenn man die erörterten Gensequenzen mit seinen eigenen vergleicht, noch ein Blick in den Rohdatensatz der Sequenzierung der Gene des Verfassers dieser Zeilen über "23andme", einsehbar auf OpenSNP. Der Verfasser dieser Zeilen hat braune Haare und er hat für rs12821256 TT, also die evolutionär ursprünglichere, nicht blonde Variante (s. OpenSNP, dort unter "other users" als "Ingo Bading" zu finden; s.a. SNPediaOMIM). "Dabei war ich doch als Kind so blond," könnte ich jetzt wie viele andere sagen. (Das ist aber eine typische Erscheinung bei hellhäutigen Menschen, die auf Wikipedia auch erörtert wird.) (Und - großer Mist: Im Rohdaten-Satz der Mutter des Verfassers dieser Zeilen, sequenziert vor einigen Wochen über "MyHeritage", lassen sich Angaben zu diesem SNP nicht finden. Immer weniger neigt man aufgrund solcher Beobachtungen dazu, "MyHeritage" zur Sequenzierung zu empfehlen, obwohl das dort gerade nur 39 Euro kostet. Aber die gelieferte Dateiform des Rohdatensatzes wird nicht von jeder Datenbank akzeptiert, was schon für sich sehr ärgerlich ist und erhöhten Aufwand mit sich bringt. Aber das nur nebenbei.)

Aktualisierung 27.4.2019: Inzwischen konnte ich die Gene einer blonden Person in meinem persönlichen Umfeld bei MyHeritage sequenzieren lassen. Die Vorfahren dieser Person stammen väterlicherseits aus Mittelpommern und mütterlicherseits aus der Wilhelmshafener Gegend. Nach der Ethnizitätsabschätzung von MyHeritage hat sie 87 % nordwesteuropäische Herkunft und 13 % osteuropäische Herkunft. Dabei beträgt der skandinavische Herkunftsanteil des ersteren Herkunftsanteiles 30 %. (Einen solcher skandinavischer Herkunftsanteil wird dem Verfasser dieser Zeilen selbst von MyHeritage gar nicht angezeigt.) Dankenswerter Weise hat MyHeritage inzwischen rs12821256 in sein Sequenzierungs-Programm mit aufgenommen. Und was findet sich da für die genannte Person: CC. Und das geht ja - nach SNPedia - mit einer vierfach höheren Wahrscheinlichkeit einher, blonde Haarfarbe zu haben.

Ergänzung 7.5.2019: Zu ergänzen ist, daß dasselbe, was für die blonde Haarfarbe gilt, auch für die blaue Augenfarbe gilt. Zu einem Review-Artikel in "Trends in Genetics", der im März 2018 veröffentlicht wurde, wird gefragt:

Welches ist der bislang früheste Zeitpunkt, an dem das Allel für blaue Augenfarbe festgestellt werden kann?
Which is the earliest date thus far by which the blue eye color allele is observed?
Und die richtige Antwort lautet:
14000 vor heute. Das Allel für blaue Augenfarbe wurde in viele frühen Europäern gefunden, die auf 14.000 vor heute datieren - aber nicht in älteren europäischen Funden, die bislang sequenziert worden sind.
~14 ka. The blue eye color allele is found in many ancient Europeans dating to ~14-7.5 ka but not found in more ancient Europeans sampled to date."

Das bezieht sich auf die mesolithischen westeuropäischen Jäger und Sammler der Villabruna-Kultur (18).

Ergänzung 5.7.2020: Der Abschnitt, der anfangs an dieser Stelle folgte, wird vorläufig gestrichen und - 22.9.22 - in den Anhang verschoben****), da jüngere Forschungsergebnisse die Zusammenhänge inzwischen anders darstellen, siehe dazu jüngere Beiträge hier auf dem Blog.

Helle Haut und blaue Augen bei den Ertebolle-Fischern an der Ostsee

Allgemeiner schreiben die Wissenschaftler über die west- und osteuropäischen (mesolithischen) Jäger-Sammler-Populationen (7):

There is also substructure in phenotypically important variants (Supplementary Information Note 2).

Und über diese phänotypische Varianz heißt es im Anhang (8):

At least some Mesolithic hunter-gatherer groups had combinations of phenotypes that are unusual in present-day populations. In particular, western European hunter-gatherers (WHG) typically lacked the variants that contribute to light skin pigmentation in present-day Europeans, though the OCA2/HERC2 variant that is the major determinant of light (including blue) eye color was common.

Die westeuropäischen Mesolithiker hatten also - wie man schon aus anderen Studien erfahren hatte - dunkle Haut und blaue Augen, eine ungewöhnliche Kombination. Die Gründe für diese auffallende Merkmalskombination könnten in einem genetischen Flaschenhals-Ereignis gefunden werden. Heißt es doch weiter:

Mesolithic hunter-gatherers have been shown to have had lower genetic diversity than either Neolithic farmers, or present-day Europeans.
Die mesolithischen Gruppen waren also intern genetisch einheitlicher als die nachfolgenden Bauern und die heutigen Europäer. Die genetischen Daten legen nahe
a stronger bottleneck in WHG relative to EHG

also ein stärkeres populationsgenetisches Flaschenhals-Ereignis für die westeuropäischen Mesolithiker als für die osteuropäischen. Sie gingen also aus einer kleineren Gründerpopulation hervor als die osteuropäischen und waren deshalb genetisch noch einheitlicher als die osteuropäischen. Das werden populationsgenetische Flaschenhals-Ereignisse am Ende der Eiszeit und bei der Ausbreitung des Waldes in Mitteleuropa gewesen sein. Oder sie sind noch älter? Weiter:

We show that Mesolithic and Neolithic individuals from Ukraine, Latvia and the Iron Gates had, like Scandinavian and Eastern hunter-gatherers, intermediate to high frequencies of the derived skin pigmentation allele at SLC24A5. Unlike Scandinavian and Eastern hunter-gatherers, however, they have low frequency of the derived SLC45A2 allele.

Wenn ich das recht verstehe, hatten also die skandinavischen und osteuropäischen Mesolithiker (sprich Ertebolle-Kultur und zeitgleiche) helle Hautfarbe sogar aufgrund von zwei Genvarianten, die weiter südlicher lebenden ebenfalls helle Hautfarbe, aber nur aufgrund einer Genvariante. Beide kombinierten helle Hautfarbe mit blauen Augen. Bei ihnen war also tatsächlich schon jener heutige nordeuropäische Phänotyp vorhanden, der bei den zuwandernden mediterranen Bauern doch offenbar nicht vorhanden war. Weiter:

The derived OCA2/HERC2 allele associated with light (particularly blue) eye color is common in WHG, SHG, and hunter-gatherers from Latvia, but at low frequency in hunter-gatherers from Ukraine and the Iron Gates. 

Blaue Augen gab es also bei den Mesolithikern im Norden Europas - aber nicht so häufig in der Ukraine und am Eisernen Tor im Donauraum. So langsam formt sich von der Ancient-DNA-Forschung her ein Bild, das mit allen uns bekannten historischen Erscheinungen nun endlich auch zusammen paßt. Weiter heißt es über die blaue Augenfarbe:

This allele appears to be differentiated in a North-South gradient, as it is today - suggesting the possibility of long-term balancing selection due to geographic variation in selective pressure. The WHG phenotype of light eye and dark skin pigmentation thus appears to be restricted to western Europe and is far from universal in European hunter-gatherers, with light skin pigmentation common in Northern and Eastern Europe before the appearance of agriculture.

Ja, jetzt ist das Bild allmählich "rund". Vieles, was man bis dato noch nicht richtig hatte einordnen können, was irgendwie "counter-intuitive" war, würde sich damit klären.

Typisch ostasiatische genetische Merkmale bei den Ertebolle-Fischern an der Ostsee

Jene Variante des EDAR-Gens, das bei den Ostasiaten dickeres Haar, eine größere Zahl von Schweißdrüsen in der Haut, kleinere Brüste und die bei ihnen typischen Zahnmerkmale hervorruft (ganz schön viel für eine Genvariante!) (Wiki), fand sich schon in einer Ancient-DNA-Studie aus dem Jahr 2015 bei drei (von sechs) Individuen in Motala in Schweden (also Ertebolle) (5.900-5.500 v. Ztr.), dann bei zwei Individuen der urindogermanischen Afanasevo-Kultur in Sibirien (3.300-3.000 v. Ztr.) und bei einem Skythen (400-200 v. Ztr.). Damit in Übereinstimmung findet es sich nun auch bei einem mittelneolitischen Letten:

The derived allele of rs3827760 in EDAR, which is common and has been a target of strong selection in the ancestors of present-day East Asians, is present in a single copy in one Middle Neolithic individual from Latvia (I4435), consistent with previous observations of the allele in hunter-gatherers from Motala in Sweden. This continues to support the possibility that this allele may have originated in the Ancient North Eurasians and not in ancestral East Asians.

Nun, man möchte meinen, daß nach den bisherigen Zeitstellungen dieser Variante die Möglichkeit auch nicht ausgeschlossen sein muß, daß sie sich mit der Keramik, mit der Hirse und mit der osteuropäischen Hausmaus von Ostasien aus unter den Völkern Osteuropas ausgebreitet haben könnte. Aber diesbezüglich wird wohl noch nicht das letzte Wort gesprochen sein.

Innereuropäische Wanderungen und Vermischungen im vorneolithischen Mesolithikum?

Nach diesem einleitenden Blick in den "phänotypischen" Anhang zurück in die Hauptstudie. Über die ausgewerteten Genreste in Menschenknochen der Ukraine wird gesagt (7):

Entlang des Gradienten zwischen der WHG- und der EHG-Herkunft tendieren die mesolithischen Individuen Richtung Osten, also zwischen EHG und mesolithische Jäger und Sammler aus Schweden.
On the cline from WHG- to EHG-related ancestry, the Mesolithic individuals fall towards the East, intermediate between EHG and Mesolithic hunter-gatherers from Sweden (Figure 1B). 

Die ukrainischen Mesolithiker stehen also auf der Mitte zwischen skandinavischen und osteuropäischen Mesolithikern. Ob es da zuvor eine Vermischung gegeben hat? Sind Leute der Ertebolle-Kultur Richtung Süden gewandert oder umgekehrt? Hier stellen sich - meines Wissens - ganz neue Fragehorizonte an die Archäologie. Nach einer noch neueren archäogenetischen Studie aus dem Juli 2017 (13) betrug der genetische Anteil der nordosteuropäischen Mesolithiker im Norden und Westen Skandinaviens 55 % und auf den Ostseeinseln und in Lettland 35 %. Auf der Grundlage dieser Ergebnisse wird vorgeschlagen, daß das eisfreie Skandinavien, vor allem die Südküste der Ostsee erst von den mittel-, bzw. westeuropäischen Mesolithikern besiedelt wurde, und daß später die Nordküste der Ostsee von osteuropäischen Mesolithikern besiedelt wurde. Beide Gruppen hätten sich dann im Ostseeraum miteinander vermischt (13):

The SHGs from northern and western Scandinavia show a distinct and significantly stronger affinity to the EHGs compared to the central and eastern SHGs. Conversely, the SHGs from eastern and central Scandinavia were genetically more similar to WHGs compared to the northern and western SHGs.

Und weiter zum ukrainischen Neolithikum (7):

Die neolithische Bevölkerung (der Ukraine) weist herkunftsmäßig gegenüber der mesolithischen Bevölkerung einen erheblichen Unterschied auf (...), wobei eine Verschiebung in Richtung WHG deutlich wird, aufgezeigt durch die Statistik D (Mbuti, WHG, Ukraine_Mesolithic, Ukraine_Neolithic).
The Neolithic population has a significant difference in ancestry compared to the Mesolithic (Figures 1B, Figure 2), with a shift towards WHG shown by the statistic D (Mbuti, WHG, Ukraine_Mesolithic, Ukraine_Neolithic); Z=8.9 (Supplementary Information Table 2).

Das Neolithikum (das hier nur Keramik und noch nicht Ackerbau bedeutet haben wird) soll im Zusammenhang mit einer Zuwanderung durch westeuropäische Mesolithiker entstanden sein. Diese westeuropäischen Mesolithiker waren überhaupt weit verbreitet, nämlich in einem Gebiet zwischen Sizilien im Süden, dem Balkan im Osten und dem Atlantik im Westen, sowie im Norden bis Luxemburg, Skandinavien und Lettland (7). Damit würden viele bislang doch als sehr eigenständige und unterschiedlich angesprochene europäische Fischer-Kulturen (Wiki) als genetisch sehr einheitlicher Herkunft aufgezeigt werden. Vierzig Individuen aus der Gegend des Eisernen Tors im Donauraum konnten in dieser Studie neu untersucht werden. Sie haben 85 % westeuropäische und 15 % osteuropäische Gene. Wie kann man sich die Ausbreitung dieser westeuropäischen Mesolithiker vorstellen? Mitteleuropa war ja flächendeckend mit Wald bedeckt. Vornehmlich kann das über Gewässer vonstatten gegangen sein. In der Endzeit des Mesolithikums hat sich im westlichen Teil dieser Region die sagenumwobene La-Hougette-Keramik (Wiki) ausgebreitet.

Der Donauraum im Frühneolithikum - Auch hier gab es in Rückzugsräumen einheimische Fischer

So weit zum Mesolitikum. Nun zum Neolithikum. Im folgenden wird dazu schon viel vorausgesetzt, was in früheren Blogbeiträgen behandelt worden ist (14-16) und es wird nur noch zusätzlich das referiert, was an neuen Erkenntnissen durch die neue Studie (7) hinzu kommt. Auch bei Lepenski Vir an der Eisernen Pforte in Serbien im Donauraum finden sich Mischbevölkerungen, die hauptsächlich von Fischen leben neben rein medierranen Bauernvölkern, die bäuerliche Ernährung haben. Ähnliche Verhältnisse also wie sie schon aus der Blätterhöhle in Westfalen und am Schweriner See im Ostseeraum im Früh- bis Mittelneolithikum bekannt geworden waren. Die Einheimischen lebten weiter ihren bisherigen Lebensstil in Rückzugsräumen, vermischten sich aber auch mit den Zuwanderern. Da sie aber viel kleinere Populationsgrößen hatten, war ihr genetischer Anteil auch in späteren Generationen der Zuwanderer zunächst nicht sehr groß. Solche Mischbevölkerungen scheinen sich als Ausnahmen auch anderswo auf dem Balkan zu finden, wo aber ansonsten - wie auch sonst in Europa - eine einheitliche mediterrane Bauernbevölkerung siedelt.

In der Kupferzeit steigt auch in den Bauernkulturen des Balkanraumes wieder der Genanteil der einheimischen Bevölkerung. Überall ein ähnliches Bild. Verrückt. Gleichzeitig tritt damit wieder vermehrt Grablegung in Rückenlage auf wie bei den Mesolithikern, während die mediterranen Bauern Hockerlage kannten.

Die Pelasger im Peloponnes stammen - in Teilen - aus dem Kaukasus

Eine besondere Geschichte ist auf der Peloponnes in Griechenland zu finden. Hier fanden sich fünf bäuerliche Individuen mit einer genetischen Herkunft von Jäger-Sammlern aus dem Kaukasus ("Caucasus Hunter Gatherers" = CHG)! Darüber heißt es (7):

Statistische Verfahren zeigen, daß die Menschen des peloponnesischen Neolithikums, die auf 4.000 v. Ztr. datiert werden, genetisch von den westeuropäischen Jägern und Sammlern in Richtung Kaukasus-Jäger-Sammler verschoben sind, vergleichbar zu neolithischen Individuen aus Anatolien und vom Balkan. Diesselbe Erscheinung sehen wir ein einem einzelnen neolithischen Individuum von Krepost im heutigen Bulgarien um 5.600 v. Ztr.. Eine noch dramatischere Verschiebung in Richtung Kaukasus-Jäger-Sammler ist in Individuen beobachtet worden, die in Verbindung gebracht werden mit den bronzezeitlichen minoischen und mykenischen Kulturen. ....
D-statistics (Supplementary Information Table 2) show that in fact, these "Peloponnese Neolithic" individuals dated to ~4000 BCE are shifted away from WHG and towards CHG, relative to Anatolian and Balkan Neolithic individuals. We see the same pattern in a single Neolithic individual from Krepost in present-day Bulgaria (I0679_d, 5718-5626 BCE). An even more dramatic shift towards CHG has been observed in individuals associated with the Bronze Age Minoan and Mycenaean cultures, and thus there was gene flow into the region from populations with CHG-rich ancestry throughout the Neolithic, Chalcolithic and Bronze Age. Possible sources are related to the Neolithic population from the central Anatolian site of Tepecik Ciftlik, or the Aegean site of Kumtepe, who are also shifted towards CHG relative to NW Anatolian Neolithic samples, as are later Copper and Bronze Age Anatolians.

Aus Mittelanatolien haben sich also bäuerliche Kulturen nach dem Peloponnes und nach Bulgarien ausgebreitet unabhängig von der sonst in Europa zu beobachtenden Ausbreitung der nordwestanatolischen Bauern. Und diese Bevölkerungen scheinen auch die Ausgangspopulation gewesen zu sein für die Besiedelung Kretas in minoischer und mykenischer Zeit. Also sind das doch die - - - Pelasger (Wiki)! Man hütet sich in der Studie, ihren Namen zu nennen. Aber um diese wird es sich doch wohl handeln. Faszinierende Geschichten. Geschichten, die die betreffenden Völker selbst vielleicht von sich gar nicht gewußt haben werden. Oder können die Pelasger gewußt haben, daß sie in Teilen aus dem Kaukasus stammten?

Männer machten die Geschichte - Auch im Mittelneolithikum

Außerdem wird ausgeführt, daß der Wiederanstieg der einheimischen Genfrequenzen in den mittelneolithischen Kulturen Europas insgesamt mehr auf Männer als auf Frauen zurück zu führen ist (7). Natürlich haben wieder einmal die Männer die untergehende Bandkeramik bekriegt und unterworfen, die Männer häufiger als die Frauen getötet und die Frauen geheiratet. Klar, so machte man das doch als Mann und Krieger bis in antike Zeiten hinein. Für die Schnurkeramiker wurde das ja schon früher festgestellt.

Abb. 4: Ausbreitung der anatolisch-neolithischen Bauern nach Mitteleuropa (rot) und in die Ukraine (blau)
(Herkunft: Archaeo3D, Institut für Archäologie, Prag) 

Ab 6.000 v. Ztr. breitete sich - ausgehend von der Starcevo-Kultur auf dem Balkan, die Körös-Kultur (Wiki) nach Ungarn und im Karpatenbecken aus. Am Plattensee in Ungarn entstand aus ihr um 5.700 v. Ztr. die völlig neue Kultur der Bandkeramik mit ihren Langhäusern. Ihr östlicher Zweig wird die Alföld-Linearkeramik (Wiki) bezeichnet. Sie ist ebenfalls durch Langhäuser gekennzeichnet. Letztere breitete sich - zeitgleich zur mitteleuropäischen Bandkeramik - 5.500 bis 4.900 v. Ztr. entlang des Nordrandes der Karpaten nach Süden Richtung in der heutigen Ukraine aus. Um 4.900 v. Ztr. löste sich europaweit die Bandkeramische Kultur in Nachfolgekulturen auf. In Ungarn etwa bildete sich die Lengyel-Kultur, in der erstmals archäologisch Volkssternwarten auftreten, also die tempelartigen "Kreisgrabenanlagen" (Wiki), die mit astronomischen Bezügen errichtet wurden und deren berühmteste Stonehenge werden sollte. Es dürfte von nicht geringem Interesse sein, daß auch diese Kreisgrabenanlagen, die später von den indogermanischen Zuwanderern weiter benutzt worden sind (auch Stonehenge), nicht selbst indogermanischen Ursprungs waren, sondern erstmals von den Nachkommen der anatolisch-neolithischen Bauern des Frühmittelneolithikums errichtet wurden, also nachdem sie sich mit noch ein paar mehr europäischen Jäger-Sammler-Nachkommen vermischt hatten als die Bandkeramiker.

In der Bukowina am Ostrand der Karpaten, im Grenzgebiet zwischen dem heutigen Rumänien und der heutigen Ukraine entstand um diese Zeit die berühmte großartige, außerordentlich eindrucksvolle Cucuteni-Tripolye-Kultur (4.800-3.000 v. Ztr.) (Wikiengl.). Sie breitete sich von dort über 500 Kilometer hinweg nach Osten aus über den Dnjestr hinweg bis zum Dnjepr. In ihrer mittleren Phase, um 4.000 v. Ztr., brachte sie ihre auffälligen, bemerkenswerten "Großsiedlungen" (Abb. 5) hervor, um der sie bekannt geworden ist. In ihrer Endphase, um 3.500 v. Ztr., wurde vermutlich von ihr der von Rindern gezogenen Wagen erfunden. Nach der hier erörterten archäogenetischen Studie vom Mai 2017 könnte sie auch an der Domestikation des Pferdes beteiligt gewesen sein (was ja nicht so fern liegt, wenn man schon einmal Rinder als Zugtiere benutzt).

4.900 v. Ztr. - Die Sredny-Stog-Kultur in der Ukraine war nicht indogermanisch

Menschen der Cucuteni-Kultur, bzw. ihre Verwandten finden sich jedenfalls 4.900 v. Ztr. an dem berühmten Ausgrabungsort Dereivka (Wiki) am Westufer des Dnjepr (7):

Unerwarteterweise stellte sich heraus, daß ein neolithisches Individuum von Dereivka, das direkt auf 4.850 v. Ztr. datiert worden ist, ausschließlich anatolisch-neolithischer Herkunft war.
Unexpectedly, one Neolithic individual from Dereivka (I3719), which we directly date to 4949-4799 BCE, has entirely NW Anatolian Neolithic-related ancestry.

Die dortigen Funde werden der Sredny-Stog-Kultur zugerechnet, die damit dem Völkerkreis der anatolisch-neolithischen Völker zuzurechnen ist und erst später von der indogermanischen Yamnaja-Kultur überlagert wurde. So weit nach Osten also drangen die mediterranen Bauern in der Ukraine vor. Und "überraschender Weise" heißt es in der neuen Archäogenetik-Studie vermutlich, weil nach der Meinung vieler Archäologen Dereivka als der Ort der Pferdedomestikation angesehen wird. Insbesondere David Anthony hat diese Meinung mit guten Gründen vertreten (Wiki):

This site is known primarily as a probable site of early horse domestication due to a high percentage of horse bones found at the site. (...) Of interest is some apparently equivocal evidence for fenced houses. Two cemeteries are associated, one from the earlier (neolithic) Dnieper-Donets culture and one from the Sredny Stog culture, of the Copper Age. The habitation site included three dwellings and six hearths, each containing hundreds of animal bones. Of all the bones, approximately 75% came from horses, possibly exploited by the inhabitants only as food staple. As a part of the Sredny Stog complex, it is considered to be very early Indo-European, and probably, Proto-Indo-European, within the traditional context of the Kurgan hypothesis of Marija Gimbutas, though Sredny Stog is itself pre-kurgan as to burial rite.

Ja, und nun weist die Archäogenetik zunächst einmal die Vermutung zurück, daß die Sredny Stog-Kultur indogermanisch wäre. Erst ab 3.600 v. Ztr. kamen an diesen Ort die Indogermanen, obwohl Indogermanen schon ab 4.700 v. Ztr. in Varna in Bulgarien zu finden sind (siehe unten). Beide Daten deuten darauf hin, was sich auch schon in der Archäologie angedeutet hatte, jetzt aber bestätigt ist, daß schon die Vorgänger-Kultur der Yamnaya expansiv war (7):

Zwei kupferzeitliche Individuen von Dereivka und Alexandria, datiert auf 3.600 v. Ztr. (also dem Yamnaya-Komplex vorausgehend) haben gemischte Steppen- und anatolisch-neolithische Herkunft.
Two Copper Age individuals (I4110 and I6561, Ukraine_Eneolithic) from Dereivka and Alexandria dated to ~3600-3400 BCE (and thus preceding the Yamnaya complex) have mixtures of steppe- and NW Anatolian Neolithic-related ancestry (Figure 1D, Supplementary Data Table 2).

Es kam also ab 3.600 v. Ztr. zur Vermischung der östlichen Indogermanen mit den ansässigen Bauern mediterraner Herkunft. Und man ist jetzt sehr gespannt, wie der Archäologe David Anthony als einer der besten Kenner der dortigen Archäologie diese neuen Daten dem bisherigen Wissen zuordnen wird. Er hat jetzt überhaupt viel zu tun, seit genetische Verbindungen der Indogermanen nach dem Kaukasus bekannt geworden sind. Aber schauen wir uns nun einmal die eindrucksvolle Kultur an, die da westlich der Indogermanen in der Ukraine entstanden war als Nachfolgekultur der Bandkeramik.

5.000 v. Ztr. - Die Cucuteni-Tripolie-Kultur war nicht indogermanisch

Dort war nämlich eine außerordentlich eindrucksvolle bäuerliche Kultur entstanden, nämlich die berühmte Cucuteni-Tripolye-Kultur (5.500-3.500 v. Ztr.) (Wikiengl.) mit ihren auffälligen, bemerkenswerten "Großsiedlungen" (Abb. 4). Sie war mediterraner Abstammung, es sind noch keine Indogermanen in dieser nachgewiesen worden  (7):

Vier Individuen der kupferzeitlichen Tripolye-Population weisen ungefähr 80 % anatolisch-neolithische Genetik auf, was bestätigt, daß die Herkunft der ersten Bauern der heutigen Ukraine vornehmlich auf denselben Ursprung zurück geführt werden kann wie die Bauern aus Anatolien und dem westlichen Europa. Ihre 20 % Jäger-Sammler-Genetik, je hälftig westeuropäische und osteuropäische paßt dazu, daß sie von den neolithischen Jäger und Sammlern dieser Region herrührt.
Four individuals associated with the Copper Age Trypillian population have ~80% NW Anatolian- related ancestry (Supplementary Table 3), confirming that the ancestry of the first farmers of present-day Ukraine was largely derived from the same source as the farmers of Anatolia and western Europe. Their ~20% hunter-gatherer ancestry is intermediate between WHG and EHG, consistent with deriving from the Neolithic hunter-gatherers of the region.

Die Kultur erstreckte sich vom Ostrand der Karpaten bis zum südlichen Bug. Und insbesondere die englischsprachigen Wikipedia-Artikel über sie berichten schon sehr differenziert und ausführlich. Sie ging - wie die Bandkeramik - sowohl kulturell wie genetisch aus der Starcevo-Körös-Kultur des Balkans hervor. Sie hat wie die beiden anderen genannten ersten Bauernkulturen Europas ursprünglich mediterraner Herkunft vor allem Muttergottheiten (Fruchtbarkeitsgöttinnen) abgebildet in Figurinen. Sie entstand etwa zeitgleich wie die Bandkeramik, wies aber eine überraschend längere gesellschaftliche und kulturelle Stabilität auf. Auf Wikipedia heißt es:

Throughout the 2,750 years of its existence, the Cucuteni-Trypillia culture was fairly stable and static.

Abb. 5: Typische Stadtsiedlung der Cucuteni-Tripolye-Kultur in der Ukraine, um 4.000 v. Ztr.
Design: Kenny Arne Lang Antonsen (Herkunft: Wiki)

Mit Bezug auf die hier im Blogartikel vor allem erörterte Studie (7) heißt es über diese Kultur auf Wikipedia  (Wiki):

A 2017 ancient DNA study found evidence of genetic contact between the Cucuteni-Trypillia culture and steppe populations from the east from as early as 3600 BCE, well before the influx of steppe ancestry into Europe associated with the Yamnaya culture.

Davon war ja oben hinsichtlich von Dereijvka am Dnjepr schon die Rede. Über die soziale Komplexität der Cucuteni-Kultur ist zu erfahren (Wiki engl.):

Like other Neolithic societies, the Cucuteni-Trypillia culture had almost no division of labor. Although this culture's settlements sometimes grew to become the largest on Earth at the time (up to 15,000 people in the largest), there is no evidence that has been discovered of labour specialisation. Every household probably had members of the extended family who would work in the fields to raise crops, go to the woods to hunt game and bring back firewood, work by the river to bring back clay or fish and all of the other duties that would be needed to survive. Contrary to popular belief, the Neolithic people experienced considerable abundance of food and other resources. (...) The primitive trade network of this society, that had been slowly growing more complex, was supplanted by the more complex trade network of the Proto-Indo-European culture that eventually replaced the Cucuteni-Trypillia culture.

Auch entwickelte sie womöglich noch komplexere gesellschaftliche Strukturen als die Bandkeramik. Denn sie bildete spätestens um 4.000 v. Ztr. in der Ukraine stadtartige Siedlungen aus, sogenannte "Megasite"'s. Eine solche komplexe Siedlungsweise wird - wie die Bandkeramik - die Hausmaus aufgewiesen haben. Und wenn um diese Zeit die osteuropäische Hausmaus schon in Varna zugange war, wird sie auch in diese Megasite's zugange gewesen sein.

4.700 v. Ztr. - Die ersten Indogermanen in Warna in Bulgarien

Und nun finden sich die ersten indogermanischen Gene in Warna in Bulgarien, diese Region gehört zum westlichen Teil der Cucuteni-Tripolje-Kultur (7):

In two directly dated individuals from southeastern Europe, one (ANI163) from the Varna I cemetery dated to 4711-4550 BCE and one (I2181) from nearby Smyadovo dated to 4550-4450 BCE, we find far earlier evidence of steppe-related ancestry (Figure 1B,D). These findings push back the first evidence of steppe-related ancestry this far West in Europe by almost 2,000 years, but it was sporadic as other Copper Age (~5000-4000 BCE) individuals from the Balkans have no evidence of it. Bronze Age (~3400-1100 BCE) individuals do have steppe-related ancestry (we estimate 30%; CI: 26-35%), with the highest proportions in the four latest Balkan Bronze Age individuals in our data (later than ~1700 BCE) and the least in earlier Bronze Age individuals (3400-2500 BCE; Figure 1D).
Schon in der Zusammenfassung der Studie (Abstract) hieß es am Anfang (7):
... steppe ancestry in individuals from the Varna I cemetery and associated with the Cucuteni-Trypillian archaeological complex, up to 2,000 years before the Steppe migration replaced much of northern Europe's population.
Über die genetische Herkunft der Indogermanen heißt es in dieser Studie wieder etwas genauer:
Steppe-related ancestry itself can be modeled as a mixture of EHG-related ancestry, and ancestry related to Upper Palaeolithic hunter-gatherers of the Caucasus (CHG) and the first farmers of northern Iran.

Also sowohl Jäger und Sammler, wie Bauern aus dem Kaukasus und dem nördlichen Iran sollen genetisch Einfluß genommen haben auf die nördlich lebenden osteuropäischen Jäger und Sammler bei der Ethnogenese der Indogermanen.

Jedenfalls: Wenn es 4.700 v. Ztr. schon Indogermanen in Varna gab, aber im Zwischenraum die Cucuteni-Tripolya-Kultur die bisherige (mediterrane) Genetik aufweist, dann müssen indogermanische Eroberer-Gruppen diesen Kulturraum umgangen haben bei ihrer Expansion nach Varna. Da wird man künftig sicher noch vieles Neue erfahren über die Wechselbeziehungen zwischen Indogermanen und Cucuteni-Tripolije-Kultur. Auch scheint der Zuwanderer-Anteil der Indogermanen in Varna im ersten Jahrtausend ihrer dortigen Anwesenheit nicht sehr hoch gewesen zu sein. Vielleicht findet man den dann auch andernorts erst noch später? Er stieg jedenfalls in Bulgarien erst in der Bronzezeit an, entweder also durch weiteren Zuzug oder durch größere Kinderzahlen der schon früh Zugewanderten.

Keine frühen Indogermanen in Anatolien

Die Forscher finden keine Hinweise darauf, daß die Indogermanen zu dieser frühen Zeit nach Anatolien eingedrungen wären, wodurch wiederum eine Theorie zum Ursprung der indogermanischen Sprachen wiederlegt ist (die "anatolische"). Dazu schreiben nun David Reich und Mitarbeiter (7):

Eine alternative Hypothese wäre, daß die Urheimat der proto-indoeuropäischen Sprachen im Kaukasus oder im Iran lagen. Nach diesem Szenario würde eine Westausbreitung zur Ausbreitung der anatolischen Sprachen geführt haben und eine nördliche Ausbreitung und Vermischung mit osteuropäischen Jägern und Sammlern wäre verantwortlich für die Formierung einer Bevölkerung, die eine "späte Proto-Indoeuropäische Sprache" gesprochen hätte, und die in Verbindung stehen würde mit der Jamnaja-Kultur.
An alternative hypothesis is that the ultimate homeland of Proto-Indo-European languages was in the Caucasus or in Iran. In this scenario, westward movement contributed to the dispersal of Anatolian languages, and northward movement and mixture with EHG was responsible for the formation of a “Late Proto-Indo European”-speaking population associated with the Yamnaya Complex.

Das dürfte noch eine ziemlich kühne These sein, an der vieles Spekulation ist. Aber bei David Reich weiß man nie ... Meistens weiß er schon mehr als er sagt und schreibt. Auf welche Sprachstammbaum-Theorien diese Ausführungen sich beziehen (anatolische indogermanische Sprachen, die sich abspalteten vor den "späten Proto-Indoeuropäischen Sprachen"?), das müßte noch herausgesucht werden.

3.100 v. Ztr. - 2.700 v. Ztr. - Die Kugelamphoren-Kultur war nicht indogermanisch

Die berühmte litauisch-US-amerikanische Archäologin Marija Gimbutas (1921-1994) (Wiki), die Begründerin der Kurgan-Hypothese zur Herkunft der Indogermanen (Wiki), die sich heute in sehr weitgehendem Maße als bestätigt erwiesen hat, hatte außerdem noch angenommen, daß die Schnurkeramiker aus ihrer Vorgängerkultur, der Kugelamphoren-Kultur (Wiki) (engl. Globular Amphora Complex), hervorgegangen wären. Diese Annahme wird durch die genetischen Daten nicht (!) bestätigt (7). Es finden sich bei den Angehörigen der Kugelamphoren-Kultur - wie sonst im europäischen Mittelneolithikum - erhöhte einheimische Genanteile vermischt mit mediterranen Genanteilen, aber keinerlei indogermanische Gene.

Es wird wohl keinen Archäologen der Geschichte geben, dessen Theorien alle zu 100 Prozent bestätigt wurden durch die weiteren Entwicklungen in der Forschung. Weder gilt das für den lachenden Herrn Gustaf Kossinna, der sich die Urheimat der Indogermanen bestimmt nicht an der Wolga vorgestellt hat. Noch auch gilt das für die ähnlich derzeit lachende Marija Gimbutas. Mich wundert sowieso, daß die deutschen Archäologen alle den Kossinna in ihren Ohren lachen hören. Warum schreiben sie keine Aufsätze mit dem Titel "Gimbuta's smile"? Das fände ich viel naheliegender. Ihre Kurgan-Theorie wurde im Wesentlichen erst nach 1945 vertreten und veröffentlicht und war schon viel dichter auch am heutigen Forschungsstand dran als ausgerechnet der olle Kossinna. Und auch Frau Gimbutas ging doch von Völkern aus. Aber manche Traumata der (Wissenschafts-)Geschichte wirken so stark nach, daß sie sich nur an einen Namen heften, mag er auch noch so alt sein. In diesem Fall an den Namen Gustaf Kossinna.

[27.11.17] Der Name Kossinna wird wohl tatsächlich im Unterbewußtsein aller deutschen Archäologen verbunden sein mit einer Gedanken-"Versuchung", die wohl alle von ihnen schon verspürt hatten, die sie aber alle sehr heftig unterdrückt hatten. Das wird der Grund für ihre derzeitige starke emotionale Reaktion sein. - Aber dennoch interessant, wie Frau Gimbutas auf ihre Vermutungen hinsichtlich der Kugelamphoren-Kultur gekommen ist, nämlich aufgrund von Tierbeigaben in Gräbern, die auch hier auf dem Blog schon Thema waren (11) und aufgrund von unterstellter Witwenverbrennung. Es sind nämlich - laut deutschem Wikipedia - viel mehr Männer- als Frauengräber bekannt aus der Kugelamphorenkultur. Und so lesen wir derzeit auf dem englischen Wikipedia (Wiki):

Die Mitbestattung von Tieren im Grab wird von Marija Gimbutas als ein eingeführtes kulturelles Element angesehen.
The inclusion of animals in the grave is seen as an intrusive cultural element by Marija Gimbutas. The practice of suttee, hypothesized by Gimbutas is also seen as a highly intrusive cultural element. The supporters of the Kurgan hypothesis point to these distinctive burial practices and state this may represent one of the earliest migrations of Indo-Europeans into Central Europe. In this context and given its area of occupation, this culture has been claimed as the underlying culture of a Germanic-Baltic-Slavic continuum.

Ich weiß nicht, ob es zu der Zeit von Gimbutas schon so gut bekannt war. Aber heute ist ja recht gut bekannt, daß sich die Benutzung von Rinderwagen ab 3.100 v. Ztr., also 300 Jahre vor Auftreten der Schnurkeramiker in der Trichterbecher- und in der zeitgleichen Kugelamphorenkultur ausbreitete, also in einer Region vom Schwarzen Meer bis nach Dänemark (11). Und mit dieser auch die Grablegung von Rinderwagen und ihrer nun also offenbar männlichen Lenker (11). Weiterhin dürfte es allerdings von Interesse sein zu fragen, ob nicht dennoch die sich darin spiegelnden veränderten sozialen Verhältnisse in irgendeinem Zusammenhang stehen mit Kulturentwicklungen rund um die Indogermanen, die ja immerhin schon 1500 Jahre früher die Königsherrschaft in Varna in Bulgarien angetreten hatten. Im Mittelpunkt der Betrachtung scheint hier stehen zu müssen die Endzeit der schon erwähnten großartigen Cucuteni-Kultur in der Ukraine, die im Untergang den nachfolgenden Völkern den Rinderwagen "geschenkt" hat wie es scheint. Auf Wikipedia ist zu lesen (Wiki):

Die späte Cucuteni-Kultur verfügte über Ochsenkarren mit Scheibenrädern. Die ältesten Hinweise auf den Gebrauch von Wagen stammen aus der Zeit vor 3500 v. Chr. In der West-Ukraine und Moldawien fand man Gefäße in Tiergestalt auf Schlittenkufen, die für das Durchstecken von Achsen mit Tonrädern durchlocht waren.

Und dann ist über den Untergang dieser großartigen Kultur zu erfahren (Wiki):

In his 1989 book "In Search of the Indo-Europeans", Irish-American archaeologist J. P. Mallory, summarising the three existing theories concerning the end of the Cucuteni-Trypillia culture, mentions that archaeological findings in the region indicate Kurgan (i.e. Yamna culture) settlements in the eastern part of the Cucuteni-Trypillia area, co-existing for some time with those of the Cucuteni-Trypillia. Artifacts from both cultures found within each of their respective archaeological settlement sites attest to an open trade in goods for a period, though he points out that the archaeological evidence clearly points to what he termed "a dark age," its population seeking refuge in every direction except east. He cites evidence of the refugees having used caves, islands and hilltops (abandoning in the process 600-700 settlements) to argue for the possibility of a gradual transformation rather than an armed onslaught bringing about cultural extinction. (...) The kurgans that replaced the traditional horizontal graves in the area now contain human remains of a fairly diversified skeletal type approximately ten centimetres taller on average than the previous population.

Vielleicht deuten sich hier jene Vermischungen an, die ja auch die Ancient-DNA-Daten nahelegen. Jedenfalls breitet sich in der Endphase der Cucuteni-Kultur die Benutzung von Rinderwagen bis nach Norddänemark aus und damit einhergehend offenbar Königsherrschaften. [Ende Einfügung 27.11.17] Eine noch viel neuere Ancient-DNA-Studie vom 10. November 2017 - allerdings nur aufgrund der mitochondrialen DNA - findet noch um 3.500 v. Ztr. in einer Höhle am Fluß Seret (9) Bauern nordwest-anatolisch-neolithischer Abstammung. Sie liegt 460 Kilometer südwestlich des heutigen Kiew (Wiki) (9):

Bauern vor und nach 4.500 v. Ztr. trugen die Haplogruppen W, HV*, H, T, K und diese werden ebenso in Individuen gefunden, die in der Verteba-Höhle 13 gefunden wurden. Unsere Daten weisen deshalb auf eine gemeinsame Herkunft mit den frühen europäischen Bauern hin.
Farmers before and after 6,500 yrBP in Europe had haplogroups W, HV*, H, T, K, and these are also found in individuals buried at Verteba Cave 13 (Table 5). Therefore, our data point to a common ancestry with early European farmers.

Aber die hier vor allem erörterte archäogenetische Studie aus dem Mai 2017 weist auf den Untergang der Cucuteni-Kultur 500 Jahre später hin (7):

Wir berichten von drei Jamnaja-Individuen (...) aus der Ukraine und Bulgarien und zeigen, daß während sie alle hohe Anteile von Steppen-Herkunft in sich tragen, eines aus Ozera in der Ukraine und eines aus Bulgarien nordwestanatolisch-neolithische Herkunftsanteile in sich trägt, die frühesten Hinweis auf eine solche Herkunft in Individuen, die mit der Jamnaja-Kultur in Verbindung gebracht werden können.
We report three Yamnaya individuals (...) from Ukraine and Bulgaria and show that while they all have high levels of steppe-related ancestry, one from Ozera in Ukraine and one from Bulgaria (I1917 and Bul4, both dated to ~3000 BCE) have NW Anatolian Neolithic-related admixture, the first evidence of such ancestry in Yamnaya-associated individuals (Figure 1B,D, Supplementary Data Table 2).

Das heißt, die Cucuteni-Kultur ging um 3.000 v. Ztr. unter, aber die ihr nachfolgenden Indogermanen vermischten sich mit Angehörigen derselben. Auf dem Balkan ergab sich dann für die Bronzezeit ab etwa 3.000 v. Ztr. 27 % genetischer Steppen-Anteil neben 67 % anatolisch-neolithischem Anteil und 5 % genetischem westeuropäischem Jäger-Sammler-Anteil (siehe gleich).

Prozentangaben zu den genetischen Herkunftsverhältnissen der untersuchten europäischen Völker

Hier sei noch eingefügt, was sich im tabellarischen Anhang an zusätzlichen interessanten Angaben findet, die man so nicht oder nicht so deutlich im Text hat finden können oder auf  die man dort nicht fokussiert war beim Lesen (Supplementary Table 1 bis 5): In Motala in Mittelschweden um 6.000 v. Ztr. finden sich 49 % westeuropäische Jäger-Sammler-Gene (WHG) und 51 % osteuropäische Jäger-Sammler-Gene (EHG). Ein vielleicht besonders eindrucksvoller Sachverhalt drückt sich in Tabelle 1 in der folgenden kruden Aussage aus:

LBK_Austria has the same HG ancestry as LBK_EN (from Germany).

Damit ist zum Ausdruck gebracht - wenn ich das recht verstehe (man korrigiere mich, wenn ich falsch liegen) -, daß die Bandkeramische Kultur von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende immer genau denselben genetischen Einheimischen-Anteil hatte. Sie lebten und sie starben mit derselben Genetik. Erst nach ihrem Untergang änderte sich in der genetischen Zusammensetzung etwas, nämlich in den regionalen Nachfolgekulturen, die auf die einheitliche mitteleuropäische Bandkeramik folgten, also gemeinsam mit der jeweils regionalen Veränderung ihrer Kultur. Die Bandkeramiker waren also nach ihrer Ethnogenese in Ungarn durch ihre ganze Geschichte hindurch streng endogam, haben nur untereinander geheiratet und es gab keine etwaigen "schleichenden", zusätzlichen Einheiraten von Einheimischen. Und das obwohl sich die Bandkeramik über ein riesiges Territorium erstreckte und dabei viele Berührungspunkte mit Einheimischen hatte. Auch in diesem Sachverhalt würde sich wieder ein starker Hinweis finden auf jene kulturellen Tendenzen, die man auch sonst in der Bandkeramik hindurchspürt, nämlich zu starker kultureller (und damit genetischer) Einheitlichkeit, zu starker Regelhaftigkeit über tausende von Kilometern hinweg. Eine Siedlung in der Ukraine und eine Siedlung an der Kanalküste gleichen sich wie ein Ei dem anderen, wie die Archäologen schon vor Jahrzehnten feststellten. Und so offenbar nun auch ihre Genetik (zumindest nachdem das Volk als solches als Gründerpopulation entstanden war und begonnen hatte demographisch zu expandieren).

Das schließt nicht aus, daß sie dennoch - untereinander - anthropologisch größere Vielfalt hatten als - etwa - die heutigen anthropologisch sehr einheitlichen Ostasiaten. (Für die aschkenasischen Juden beispielsweise ist ja genau derselbe Sachverhalt festgestellt worden. Bei ihrer Ethnogenese selbst zunächst sehr starke Vermischung mit europäischen Frauen, aber danach und seither durchgängig streng endogam, sogar gegenüber den sephardischen Juden.)

Die frühen Bauern des Peloponnes und die Minoer werden in den Tabellen beide zu 100 % herkunftsmäßig anatolisch-neolithisch gekennzeichnet. (Freilich war das eine andere anatolisch-neolithische Genetik als die der neolithischen Nordwestanatolier.) Sie haben sich aber außerdem nach dieser Angabe offensichtlich noch deutlich weniger mit etwaigen Einheimischen gemischt als die nordwestanatolischen Bauern und ihre Verwandten auf dem Balkan und in Mitteleuropa.

Das Mittelneolithikum im heutigen Deutschland ("Central_MN"), also die Nachfolgekulturen der Bandkeramik haben dann 18 % Anteil westlicher Jäger-Sammler-Gene (WHG) und die Kugelamphorenkultur hat davon sogar schon 25 % (WHG). Hier richtete sich also eine - wie auch immer geartete Selektion - gegen die einstmals zugewanderten anatolisch-neolithischen Gene.

Und dann beginnt die Ausbreitung der Yamnaya. Da ist zunächst eine Vučedol-Kultur (Wiki)  im heutigen Kroatien an der Adriaküste in der Zeit zwischen 3.000 und 2.200 v. Ztr. genannt (die uns als solche im Text gar nicht aufgefallen war). Und bei dieser beträgt der genetische Yamnaya-Anteil ab also etwa 3.000 v. Ztr. 27 %, neben 67 % anatolisch-neolithischem Anteil und 5 % westeuropäischem Jäger-Sammler-Anteil. Hier konnte sich also der anatolisch-neolithische genetische Anteil recht gut halten. Ganz ähnliche Prozentanteile werden dann für die Bronzezeit des Balkans genannt.

In Mitteleuropa hingegen haben sich die Yamnaya ab 2.800 v. Ztr. deutlich stärker genetisch durchgesetzt als auf dem Balkan. Die Glockenbecher-Kultur in Deutschland hat 48 % Yamnaya-Anteil neben 37 % anatolisch-neolithischem Anteil und 15 % westlichem Jäger-Sammler-Anteil. Die Schnurkeramiker haben sogar 70 % Yamnaya-Anteil, neben 20 % anatolisch-neolithischem Anteil und 10 % westlichem Jäger-Sammler-Anteil. Man gewinnt fast den Eindruck, als ob bei den Ethnogenesen dieser mitteleuropäischen Kulturen der anatolisch-neolithische genetische Anteil anteilsmäßig stärker zurück gedrängt worden wäre als der westliche Jäger-Sammler-Anteil, denn letzterer hält sich ja in beiden Kulturen auf dem Anteil des Mittelneolithikums. Es entsteht der Eindruck, als ob in den kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Schnurkeramikern (oder in epidemischen Krankheiten) unverhältnismäßig mehr Menschen vorwiegend anatolisch-neolithischer Herkunft ums Leben gekommen wären als Menschen einheimischer europäischer Jäger-Sammler-Herkunft. Vielleicht waren letztere Gen-Anteile aber auch einfach nur genetisch besser an den mitteleuropäischen Raum angepaßt oder an die Kultur, die nun von den kulturell dominierenden Yamnaya ausgebildet wurde. (Übrigens unterscheiden sich die Tabellen untereinander etwas in den Prozentangaben - aber nicht wesentlich. Das hat Gründe, die wohl erst nach intensiverer Auseinandersetzung mit ihnen verständlich würden.) Soweit die Durchsicht des tabellarischen Anhangs.

Die Indogermanen kommen spät nach Lettland

Über Lettland heißt es in der Studie (7):

We find (Supplementary Data Table 3) that Mesolithic and Early Neolithic individuals (Latvia_HG) associated with the Kunda and Narva cultures have ancestry intermediate between WHG (~70%) and EHG (~30%), consistent with previous reports.

Auch hier ist der westeuropäische mesolithische Anteil überraschend hoch. Zwischenzeitlich, so wird dann ausgeführt, könnte es noch zu Verschiebungen in den Genanteilen in Lettland gekommen sein. Und irgendwann in der Endzeit der Schnurkeramik kamen die Indogermanen nach Lettland. Soweit ein Überblick über wichtige neue Einsichten dieser Studie. Ergänzt sei noch anhand einer weiteren Studie (10), daß unsere heutigen europäischen Hunde auf Hunde der Bandkeramiker zurückgehen, nicht auf Hunde indogermanischer Zuwanderer (10). Dabei hatte doch der führende Indogermanen-Archäologe David Anthony gerade erst einen riesigen Hype gemacht um einen indogermanischen Hundekult betrieben im Zusammenhang eines unterstellten Initiationsritus von Seiten jugendlicher männlicher Kriegerbünde (17). Wenn es ihn gegeben haben sollte (was auch sonst arg hypothetisch ist) (17), dann war ihnen jedenfalls offenbar egal, Hunde welcher Herkunft sie dafür nahmen.

Ausblick

Insbesondere sehenswert sind auch noch die schönen Grafiken im Anhang, die man hier in den Blogbeitrag herüber holen müßte, insbesondere die Hauptkomponenten-Analyse mit den eingetragenen neuen Ergebnissen. - Ganz richtig heißt es am Ende der Studie (7):

While this study has clarified the genomic history of southeastern Europe from the Mesolithic to the Bronze Age, the processes that connected these populations to the ones living today remain largely unknown. An important direction for future research will be to sample populations from the Bronze Age, Iron Age, Roman, and Medieval periods and to compare them to present-day populations to understand how these transitions occurred.

Abschließend: Der deutlichere Bezug zum Titel und zur Einleitung geht im Verlauf der Ausführungen dieses Blogartikels verloren. Aber klar geht aus fast allen Ausführungen hervor, daß überall Völker die Geschichte machen über Migrationen und anteilmäßige Vermischungen, und daß sich überall dort, wo sich die Kultur ändert, in der Regel auch die zugrunde liegenden Gene ändern. Einmal stärker, einmal weniger stark. Dieser Zusammenhang ist unübersehbar. Nur in Ausnahmefällen wird Kultur von Menschen anderer Genetik angenommen als der Genetik jener Menschen, die diese Kultur hervorgebracht haben (Glockenbecher-Leute in Spanien zum Beispiel). Anhand solcher Angaben kann also jetzt zunehmend besser erforscht werden, welches Zusammenspiel es zwischen Genen und Kultur gibt (Gen-Kultur-Koevolution).

So darf man es etwa auch als auffällig erachten, daß um 5.700 v. Ztr. die Bandkeramik als völlig neue, sehr charakteristische und eigentümliche Kultur entstand, obwohl - wie schon angedeutet und in den beiden letzten Jahren gut erforscht - der genetische Einfluß der dort zuvor ansässigen einheimischen Bevölkerung dabei durchgehend nur 9 % betragen hat. Dennoch bestand das "Bedürfnis" dieser Menschen - oder sie sahen die Notwendigkeit -, eine ganz neue, eigenständige Kultur zu schaffen und zu leben - insbesondere in weilerartigen Langhäusern anstelle von Mauer an Mauer gebauten dörflichen Siedlung. Und ähnlich kann man sich jetzt auch Gedanken machen zur Entstehung aller anderen hier genannten Kulturen. Lange Jahrhunderte der genetischen und kulturellen Stabilität vor Ort wechseln oft abrupt mit der Zuwanderung neuer Gene und neuer Kultur. Neues entsteht offenbar vor allem dort, wo entweder die demographische und kulturelle Expansivkraft einer Kultur an ihre mehr oder weniger intern vorgegebenen Grenzen stößt und/oder wo äußerer Widerstand nicht mehr von ihr ohne weitere Veränderung zu überwinden ist. Natürlich stellt auch die Weiterentwicklung der Technologie einen wesentlichen Faktor dar, hier insbesondere das Rad, sowie die Domestizierung des Pferdes.

Alles in allem sind Titel und Einleitung deshalb doch berechtigt: Durch alle Ausführungen des vorliegenden Aufsatzes hindurch wird deutlich, daß es immer wieder Völker sind, die die Geschichte bestimmen, Völker, die lange oder kurz leben, Völker, die in gigantischer Weise expandieren und dann zur geschichtlichen Bedeutungslosigkeit zusammen brechen, während andere Völker auf ganz neue Weise expandieren und bis heute im wesentlichen in genetischer Kontinuität weiter leben.

Nachbemerkung - Ein Blick in die Wissenschaftsgeschichte - Das Verstummen der Kossinna-Schule innerhalb der deutschen Archäologie nach 1945

11.8.24: Der Verfasser dieser Zeilen hat sich zwischenzeitlich vergleichsweise umfangreich mit der Wissenschaftsgeschichte der "Kossinna-Schule" innerhalb der deutschen Archäologie beschäftigt. Als Vertreter, bzw. Repräsentanten dieser Schule vor 1945 sind namentlich zu nennen neben Gustaf Kossinna selbst seine Schüler Hans Reinerth (1900-1990) (Wiki), Rudolf Stampfuß (1904-1978) (Wiki) und - als der wissenschaftsnahe Förderer seit den frühen 1930er Jahren: Alfred Rosenberg (1893-1946) (Wiki). Archäologische Museen, deren Geschichte in engem Zusammenhang mit dieser Schule standen, waren das Klostermuseum Heiligengrabe in der Mark Brandenburg (WikiPrbl2019), das Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle (Wiki), das Pfahlbaumuseum in Unteruhldingen (Wiki), das Heimatmuseum in Hamborn und Duisburg am Niederrhein, das Freilichtmuseum Oerlinghausen (eröffnet 1936) (Wiki) und schließlich auch das Landesmuseum für Vorgeschichte in Bonn (Wiki) in Form seiner überstürzten "germanophilen" Neugestaltung im Jahr 1936. 

Seit Anfang der 1970er Jahre ist die Geschichte dieser "Kossinna-Schule" wissenschaftlich aufgearbeitet worden. Es geschah und geschieht das aber bis heute so gut wie immer nur aus der Sicht ihrer vormaligen Gegner. Die Eigenwahrnehmung der Kossinna-Schule und ihrer Anliegen kam dabei bis heute selten in den Blick. Immerhin ist der Verwalter des umfangreichen Reinerth-Nachlasses im Pfahlbau-Museum in Unteruhldingen am Bodensee, Gunter Schöbel (geb. 1959) (Wiki), der dort seit 1990 als Museumsleiter auch in Nachfolge von Hans Reinerth wirkt, seit mehr als zwanzig Jahren um eine geschichtliche Aufarbeitung des Lebens und Wirkens seines Vorgängers bemüht. In seinen umfangreichen Arbeiten blitzt immer wieder einmal auch die Eigenwahrnehmung der Kossinna-Schule hindurch. In seinen jüngeren Arbeiten noch etwas deutlicher als in den älteren.

Vor allem wird sichtbar, daß dieses vollständige Vergessen auch etwas damit zu tun hat, daß all die vielen Archäologen, die vor 1945 ähnliche Ansichten wie die "engere" Kossinna-Schule vertreten haben, auch dann, wenn sie in Gegnerschaft zu ihrem Hauptvertreter Hans Reinerth standen, an diese ihre eigenen Haltungen und Sichtweisen vor 1945 möglichst wenig erinnert werden wollten und dadurch, daß ihnen das gelang, den Eindruck erweckten, als wären Hans Reinerth und einige seiner Schüler die "einzigen" gewesen, die das Denken der Kossinna-Schule in Deutschland bis 1945 vertreten hätten.

Hans Reinerth wurde also nach 1945 als "Sündenbock" genutzt, auf den man alle Schuld ablud, wonach dann in der deutschen Archäologie einfach getan wurde, als wäre nie etwas gewesen und man schlicht weiter arbeitete, nun ohne "anspruchsvollere" weltanschauliche Einbettung. Aus Sicht der "engeren Kossinna-Schule" um Hans Reinerth konnte das nur als ein heuchlerisches, zutiefst unaufrichtiges Verhalten angesehen werden: So gut wie alle deutschen Archäologen hatten sich vor 1945 zum Nationalsozialismus bekannt, viele auch zu seinen eher verschwommen neuheidnischen, religiösen Anliegen, nicht nur die engere Reinerth-Schule. So wie ja auch viele Abgeordnete des Deutschen Bundestages in der Zeit nach 1945 vor 1945 Mitglieder der NSDAP gewesen waren, und so wie auch die Ministerien nach 1945 voll waren mit ehemaligen Nationalsozialisten. Ja, man denke, sogar führende deutsche Intellektuelle nach 1945, waren vor 1945 Nationalsozialisten gewesen .

Daß in der deutschen Archäologie alle Archäologen nach 1945 erneut Lehrstühle besetzen durften, nur die "engere Kossinna-Schule" nicht, und daß sich nach 1945 an deutschen Hochschulen niemand mehr mit Gustaf Kossinna und seinen Sichtweisen identifizierte, führte dazu, daß diese Geistesströmung in einem unglaublich umfangreichem Maße in die Vergessenheit geradezu gestoßen worden ist. 

Bei längerer Beschäftigung mit der Geschichte der Kossinna-Schule wird deutlich, daß diese Schule zwar während des Dritten Reiches äußerlich einen scheinbar einflußreichen Förderer besaß in Alfred Rosenberg, daß unterschwellig aber die Mehrheit der deutschen Archäologen unter dem Dach des "Ahnenerbes" von Heinrich Himmler außerordentlich scharf gegen diese Schule arbeitete (!). Es war das eine Auseinandersetzung von mehrheitlich "christlich" orientierten Archäologen einerseits, die sich unter das Dach des "Ahnenerbes" flüchtete und seiner Hochwertung von Männerorden, und den dezidierter neuheidnisch orientierten Archäologen der Kossinna-Schule andererseits, die in Ablehnung stand zu Männerorden und zu "Klerus" in jeder Form. So wie das Neuheidentum von den christlichen Kirchen auch sonst im "Kirchenkampf" während des Dritten Reiches scharf bekämpft worden ist, so fand dieser Kampf - womöglich in noch schärferer, erbitterterer, weil äußerlich kaum sichtbarer Form - innerhalb der deutschen Archäologie statt. 

Es war das ein unglaublich aufwühlendes Geschehen, innerhalb dessen "mächtigere Gruppierungen und bessere Netzwerke", die "hinter den Kulissen" wirkten (Schober), die Kossinna-Schule im engeren Sinne schon während des Dritten Reiches mehr oder weniger in die wissenschaftliche Isolation drängen konnten, auch wenn das äußerlich kaum wahrnehmbar ist. Bezeichnend für den Geist dieser Gegnerschaft ist zum Beispiel, daß noch in der ersten, verbrämenden wissenschaftsgeschichtlichen Darstellung dieses Geschehens die Rede sein konnte von den "Niederungen der Germanophilie", denen sich die christlich und zum Orient hin orientierten Archäologen hätten entgegensetzen müssen während des Dritten Reiches (siehe Bollmus 1970). Es sollte deutlich werden, was damit gesagt werden soll: Aus heutiger Sicht ist Freude am heidnischen Germanentum nicht gleich per se "Niederung". Im Jahr 1970 konnte das aber so von sich seriös anmutenden Archäologen formuliert werden. 

Wie erschütternd das Verstummen der Kossinna-Schule der deutschen Archäologie nach 1945 erlebt werden kann, wird aber im Grunde erst deutlich, wenn man sich mit dem ungeheuer lebendigen wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen, ja, mit dem damit verbundenen kulturellen und religiösen Aufbruch beschäftigt, der ab den frühen 1920er von der Kossinna-Schule verkörpert worden ist. Es waren das alles ursprünglich viele fröhliche Hobby-Archäologen, die einfach aus Begeisterung für die Sache die wissenschaftliche Entwicklung der Archäologie kräftig voran trieben, und denen es auch spielend gelang, in der Öffentlichkeit großes Interesse und große Aufmerksamkeit für ihre Forschungsergebnisse zu gewinnen. 

Soweit nur als Ausblick auf ausführlichere Beiträge zur Geschichte der Kossinna-Schule, die wir schon länger in der Schubladen liegen haben.  

____________________________________________

*) David Reich holt auf die Frage, wie die Archäologen auf die neuen Ergebnisse reagiert haben, in angemessener Weise weiter aus (1):

Ich denke, das ist eine gute Frage. Archäologen sind Wissenschaftler, sie sind stark daran interessiert zu probieren herauszubekommen, was sie über die Vergangenheit lernen können. Und ihre wissenschaftliche Gemeinschaft hat Naturwissenschaft wieder und wieder und wieder als einen Weg begrüßt, um etwas Neues über die Vergangenheit zu lernen. Was nun hier in der Archäologie passiert, das ist sehr ähnlich zu der C14-Revolution, als man mit dem Jahr 1949 (...) herausbekam, daß man Funde datieren kann (...) und daß dadurch eine absolute Chronologie für die Vergangenheit erstellt werden kann. Und dies widerlegte viele Annahmen über die Vergangenheit. Die ersten Steinmonumente stammen nicht aus dem Nahen Osten, aus Ägypten und Mesopotamien, sie traten vielmehr erstmals in Westeuropa auf und an Orten wie Stonehenge. 

Nun, da nennt er - klugerweise - eher ein Ausnahmephänomen (das im übrigen mit Göbekli Tepe sogar ebenfalls als solches infrage gestellt werden kann). Aber auf die Regel kommt er ja dann auch schon im nächsten Satz zu sprechen:

Also alle Chronologien zeigen, daß alle Erfindungen aus dem Nahen Osten kamen und daß sich die Zeitspannen alle verändert haben. Die Archäologen haben diese neuen Techniken der Naturwissenschaft begrüßt wieder und wieder und begrüßen auch diese neue. Ich denke, es gibt hier in der Genetik eine besondere Sensibilität, denn wir reden hier über die Bewegung von Menschen und das hat politisch ziemlich starke Bedeutung erhalten in den Schwierigkeiten des 20. Jahrhunderts. Denn in den Anfängen der Archäologie gab es Menschen, die Gruppen - wie die Kultur der Schnurkeramik aus Osteuropa - zum Beispiel als die Begründer der indoeuropäischen Sprachen identifizierten. Sie breiteten sich über Osteuropa aus, es gab deutsche Archäologen, die behaupteten, daß die Völker, die in indoeuropäischen Sprachen wurzeln, sich in alle Richtungen ausbreiteten, daß ihr Heimatland Deutschland war oder in Nachbarländern. Und sie sprachen sie als das ursprüngliche Volk an und als nationales Ursprungsland von Deutschland und es wurde im Zweiten Weltkrieg benutzt als Teil der propagandistischen Rechtfertigung für die Ansprüche auf Land. Deshalb hat die archäologische und anthropologische Forschungsgemeinschaft nach dem Zweiten Weltkrieg darauf sehr stark reagiert. Sie argumentierten und pflückten - wie Wissenschaftler das so tun - die Argumente auseinander, die benutzt worden waren, um zu behaupten, daß das von Seiten der Schnurkeramiker Wanderbewegungen waren. Und sie zeigten die Probleme auf, die es mit dieser Argumentation gab. Und es wurde sehr unpopulär in der Archäologie - und das ist es dort immer noch vielerorts - Wanderbewegungen anzunehmen. Die Annahme ist, daß der Wandel und die Ausbreitung von Kulturen sich durch die Kommunikation von Ideen vollzogen hat und nicht durch die Wanderungen von Menschen (oder Völkern). Und die Genetik fand nun Beispiele wie die Schnurkeramiker-Expansion - auch wenn sie in umgekehrten Richtung verlief, nicht vom Westen nach Osten wie die Archäologen ursprünglich sagten, sondern von Osten nach Westen - die zeigen, daß Wanderbewegungen durchaus sehr wichtig waren in der menschlichen Geschichte ebenso wie Vermischung. Und ich denke, daß es sehr interessant ist, damit in Übereinstimmung zu kommen. Und im Zusammenhang mit den Veröffentlichungen, an denen ich beteiligt war, bei einer besonders, der Entdeckung dieser Hauptexpansion von der Steppe nach Mitteleuropa hinein, schrieb ein deutscher Archäologe an alle Mitverfasser dieser Veröffentlichung: "Das ist wie die 'Siedlungsarchäologie' von Gustaf Kossinna vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Wir können bei einer solchen Wiederbelebung nicht mitmachen, auch wenn es nur eine kleine ist." Und die Archäologen begannen, von der Autorschaft der Veröffentlichung zurückzutreten. Deshalb mußten wir die Veröffentlichung umschreiben und dann machten sie alle wieder mit.

Lachen im Publikum.

Also das ist ein sehr sensibles Thema - und es ist angemessener Weise ein sensibles Thema. Es gibt da diese Frage in der Archäologie, die "Pots versus People"- ("Gefäße versus Völker"-)Debatte, die Frage, ob kultureller Wandel über die Weiterverbreitung von Ideen zustande kommt oder über Wanderbewegungen. Und wir können das zum ersten mal beantworten mit den genetischen Daten. Vorher hat man versucht das zu beantworten über die Schädelformen. Aber das war nicht sehr genau und es gab zu viele Probleme damit. Aber man kann das jetzt beantworten. Es ist eine beantwortbare Frage.

**) Als eine besonders merkwürdige Reaktion auf das Lachen des alten Kossinna da oben im Himmel - und gleichzeitig auf die Zuwanderungen nach Deutschland im Jahr 2015 - sind die Ausführungen des Archäologen Harald Meller (geb. 1960) (Wiki) im Vorwort zu einem Tagungsband zu einer im Oktober 2016 in Halle abgehaltenen Archäologen-Tagung zu diesem Thema anzusprechen (12). Der Sache nach akzeptiert er jetzt schon, daß der alte Gustaf Kossinna so Unrecht nicht gehabt haben wird. Nach dem reinen Sachreferat stellt er sich Migration in der Vorgeschichte dann aber folgendermaßen interpretierend vor (12):

"In beiden Fällen - Migration und Ankunft von Migranten - handelt es sich um historische Ereignisse, die sich auf den regelmäßigen Ablauf des täglichen Lebens - vor allem in seßhaften Gesellschaften - auswirken, ...." 
... das wird durchaus so vermutet werden dürfen, ja .... Die:
"... aber gleichzeitig zur erfolgreichen Entwicklung der Gemeinschaft beitragen, bzw. für diese notwendig sind."

Wir versuchen, ganz ruhig zu bleiben und diese Sätze so gelassen und emotionslos wie nur möglich einzuordnen. Man wird wohl doch in aller Zurückhaltung sagen dürfen, daß dies eine recht kühne Behauptung ist. Woher weiß Harald Meller von dieser "Notwendigkeit"? Das ist ja ein durchaus interessanter und erörterbarer Geschichtsbegriff. Aber ein solcher müßte doch einmal sehr ausführlich erörtert werden, bevor man ihn so glattweg unterstellen könnte. Was aber doch noch viel wesentlicher ist: Es wird doch wohl sehr infrage gestellt werden dürfen, ob alle Zeitgenossen in der Vorgeschichte von einer solchen "Notwendigkeit" gar so sehr überzeugt gewesen sind wie Harald Meller das heute ist und unterstellt. Harald Meller setzt diese Überzeugung aber rundum voraus, wenn er weiter schreibt (12):

"Es ist daher zu erwarten, daß die vor- und frühgeschichtlichen Gesellschaften über Strategien verfügten, die sowohl die Mobilität als auch die Aufnahme von Personen und Gruppen regelten und traumatische Begegnungen verhinderten."

Das ist also eine ganz neue Form, mit Kossinna'schen Geschichtsbildern umzugehen. Man ahnt schon wieder recht deutlich, wie sich die Gesichtszüge des alten Kossinna droben im Himmel zuckend zusammen ziehen. So als ob er reinen Zitronensaft zu probieren gekriegt hätte.

Nehmen wird doch - zum Beispiel - die neolithischen Bauern der Trichterbecherkultur. Wie haben diese die Schnurkeramiker begrüßt? Das wird gewiß alles künftig noch genauer erforscht werden. Einstweilen kennen wir nur das Grab der schnurkeramischen Familien von Eulau (Wikian der Saale in Sachsen-Anhalt, fünf Kilometer nördlich von Naumburg, wo Familienmitglieder bäuerliche Pfeilspitzen im Hinterkopf hatten und gemeinsam bestattet wurden, also aller Wahrscheinlichkeit nach gemeinsam zu Tode kamen in einem Massaker. Die Pfeilspitzen stammten von Bauern, die 60 Kilometer weiter nördlich im Harz lebten. Um diesen Befund den Meller'schen Gedanken zuzuordnen: Da waren wohl einige Einheimische von der Weltgeschichte doch noch nicht so ganz ausreichend in den "Strategien" geschult worden, "traumatische Begegnungen" zu verhindern. Von Meller selbst stammt eine wissenschaftliche Veröffentlichung über diese Funde.

Nun, zu all dem könnte wohl noch unendlich viel gesagt werden. Aber das soll hier nicht gar zu sehr ausgewalzt und ausgerechnet gegen Harald Meller verwendet werden. Es wird hier auch nur der Vollständigkeit halber eingefügt. Sonst macht Harald Meller nämlich schon seit vielen Jahren viel beachtete und ganz hervorragende wissenschaftliche Arbeit. So viele grundlegend neue archäologische Erkenntnisse kamen in den letzten Jahren immer wieder gerade aus Sachsen-Anhalt. Und Meller ist doch offensichtlich einer der ersten Archäologen, der umfangreich Knochenfunde zur Auswertung den Genetik-Laboren zur Verfügung gestellt hat. Er war offenbar nur zeitweise ein wenig entsetzt über die Ergebnisse*). Und er versucht sie nun hier ein wenig gar zu einseitig harmonisierend zu interpretieren, vielleicht beeinflußt durch die politische Zeitstimmung, die ihn in diesen Jahren umgibt. Irgendwann wird sich das Pendel der Interpretationen der geschichtlichen Daten wohl wieder auf ein vernünftiges Mittelmaß einpendeln, das nicht gar zu pauschal heute in Mitteleuropa verinnerlichte Strategien vorgeschichtlichen Bevölkerungen zuspricht. 

Wobei sogar etwas gar zu sehr harmonisierend übersehen wird, daß wir es auch heute oft mit traumatisierten Menschen zu tun haben, die andere Weltteile aufsuchen. Aber auch die Behauptung, daß solche traumatisierten Menschen aus anderen Weltteilen "notwendigerweise" die Entwicklung von Gesellschaften an ihren Ankunftsorten voran bringen, dürfte auch aus rein wissenschaftlicher Perspektive - und gerade auch vor dem Hintergrund der neuen Ancient-DNA-Ergebnisse - in ihrer pauschalen Art als außerordentlich kritikwürdig zurückzuweisen sein. Selbst unabhängig von der Ancient-DNA-Forschung können doch schließlich haufenweise Migrationen in der Geschichte angeführt werden, durch die die gesellschaftliche Entwicklung vor Ort um Jahrhunderte, wenn nicht um ganze Jahrtausende zurück geworfen worden ist, durch die ganze Völker und Weltteile versklavt worden sind, ausgerottet worden sind, durch die kulturelle Vielfalt vernichtet worden ist, durch die ganze Hochkulturen untergegangen sind und so weiter und so fort. Viele naturwissenschaftliche Erkenntnisse des Aristoteles (etwa auf dem Gebiet der Meeresbiologie) sind erst in den letzten Jahren als solche wieder entdeckt worden, weil es zwischen ihm und uns - zwischen 375 und 500 n. Ztr. - krasse Migrationen gab, die eine Hochkultur zerstörten. Und diese Ausführungen nur, um zu diesem Thema auch nur das Allerwenigste gesagt zu haben.

Ergänzung 5.7.2020: Schon im Jahr 2018 ist ein Buch von Harald Meller erschienen, in dem auf die Erkenntnisse der Archäogenetik deutlich gelassener reagiert wird. Es heißt da (21, S. 172): "Die Ur- und Frühgeschichte hatte sich nur zu bereitwillig für die pseudowissenschaftlichen Zwecke des Nationalsozialismus einspannen lassen. Sie suchte eifrig, (...) die Überlegenheit der "nordischen Rasse" zu demonstrieren. (...) Da überrascht es nicht, daß sich die westdeutsche Archäologie nach dem Zweiten Weltkrieg in dieser Hinsicht äußerst zurückhaltend zeigte - und mit allem Völkischen auch den Begriff Volk entsorgte. (...) Seither beschränken sich Archäologen darauf, 'Kulturen' und 'Kulturgruppen' am Werk zu sehen. (...) Wen überrascht es angesichts solch nüchterner Terminologien, daß sich bei den Menschen nur schwer Interesse für die eigene Geschichte wecken läßt?" In diesen wenigen Worten ist eigentlich zur Thematik alles gesagt, was gesagt werden muß. Und in ihnen steckt vermutlich noch mehr drin, als sich die beiden Verfasser bei der Formulierung dieser Worte bewußt gewesen sein werden. Jedenfalls treffen sie den Nagel - sozusagen - mehr als hundert Prozent auf den Kopf. Und Gustav Kossinna? Nun, er wird schon wieder mit etwas entspannteren Gesichtszügen auf uns Nachgeborene schauen ..........

***) Ergänzt 12.7.2019: Dessen Volk vermutlich 30.000 Jahre alt ist (19, 20). 

****) / Erwachsenen-Rohmilch-Verdauung vor 12.000 Jahren im Rhonetal /

Auch zur Herkunft, Entstehung und Ausbreitung der angeborenen Erwachsenen-Rohmilch-Verdauung, für die sich Humangenetiker seit Jahrzehnten so stark interessieren, gibt es neue, allerdings noch nicht sehr stark abgesicherte Erkenntnisse:

The approximately 12,000 year old WHG individual Iboussieres-25 appears to carry the derived allele at the SNP rs4988235 that is strongly associated with lactase persistence in present-day Northern Europeans. Four reads at this SNP all carry the derived allele, although we caution that this is a C>T SNP in a non-UDG treated sample and so might be affected by deamination, and two reads at neighboring SNPs do not support the persistence haplotype, at least in a homozygous state (Supplementary Figure S2.3). The observation of this allele, long before domestication and dairying, would be surprising, but might be consistent with observation of lactase persistence in early Neolithic populations in Iberia and Sweden - observations that were themselves surprising based on the absence of persistence in large samples of Anatolian Neolithic and LBK individuals. One possibility is that the allele was widely distributed at low frequencies before being strongly selected in the Bronze Age, perhaps due to the spread of dairying.

Erwachsenen-Rohmilch-Verdauung könnte also schon bei westeuropäischen Jäger-Sammlern um 10.000 v. Ztr. im Rhone-Tal westlich der Alpen vorgelegen haben. Und deshalb überraschend früh auch bei den Trichterbecherleuten, den ersten Bauern in Skandinavien. Daß es die Trichterbecherleute bei ihrer Milchviehhaltung brauchten, ist nachvollziehbar, aber wozu brauchten die dieses Gen vor 12.000 Jahren im Rhone-Tal? Das ist in der Studie nicht weiter behandelt, aber es kann gefragt werden: Haben die sich etwa von ihren Frauen auch noch im Erwachsenenalter "stillen" lassen? Eine solche Möglichkeit könnte ja auch einmal völkerkundlich aufgearbeitet werden. Erinnert man sich doch daran, daß Frauen auf Papua Neuguinea auch kleine Schweinchen, die im Haushalt leben, stillen. Und immerhin ist ja ein solches Geschehen unter Erwachsenen - als "Caritas Romana" - in der europäischen Kunstgeschichte, auch in der christlichen immer wieder einmal thematisiert worden (Wiki). Und 1903 wurde von einem Carl Buttenstedt regelmäßiges Trinken an den Brüsten der Ehefrau sogar zur Empfängnisverhütung vorgeschlagen (Wiki). Na, wenn das keine Idee ist.

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  1. Reich, David: "Kossinna - It is a very sensitive issue". Antwort auf eine Frage zu seinem Vortrag "Who we are and how we got here - Ancient DNA and the new science of the human past" - Midsummer Nights' Science Wednesday, July 12 2017, Broad Institute Cambridge, MA (The Eliana Hechter Memorial Lecture), etwa 55'45 bis 59'39: https://youtu.be/pgXYfLkRdJ0?t=55m43s
  2. Heyd, Volker: Kossinna's smile. In: Antiquity, Vol. 91, No. 356, 04.2017, p. 348-359. https://www.cambridge.org/core/journals/antiquity/article/kossinnas-smile/8ABA3BD9132B7605E8871236065CD4E3, https://researc h-information.bristol.ac.uk/files/113850524/Kossinna_s_Smile_as_finall y_submitted.pdf
  3. Kristiansen, Kristian u.a.: Re-theorising mobility and the formation of culture and language among the Corded Ware Culture in Europe. In: Antiquity, Vol. 91, No. 356, 04.2017, https://www.cambridge.org/core/journals/antiquity/article/retheorising-mobility-and-the-formation-of-culture-and-language-among-the-corded-ware-culture-in-europe/E35E6057F48118AFAC191BDFBB1EB30E/core-reader
  4. Meller, Harald; Krause, Johannes und andere: Migration and Integration from Prehistory to the Middle Ages. 2016. Available from: https://www.researchgate.net/publication/320866192_Migration_and _Integration_from_Prehistory_to_the_Middle_Ages [accessed Nov 23 2017]
  5. Kristiansen, Kristian u.a.: Population genomics of Bronze Age Eurasia. 2015. Available from: https://www.researchgate.net/publication/278327861_Population_ genomics_of_Bronze_Age_Eurasia [accessed Nov 24 2017]
  6. PM/HR: Hinweise auf Herkunft des Indogermanischen aus der Steppe - Wissenschaftler der Universität Tübingen an Studie zum Einfluß frühbronzezeitlicher Wanderungsbewegungen auf die Entwicklung der indoeuropäischen Sprachen beteiligt. Pressemitteilung, März 2015. https://www.mpg.de/8995790/menschen-wanderung-indogermanische-sprachen
  7. Mathieson, Iain; Reich, David und viele andere (2017-05-30). The Genomic History Of Southeastern Europe. https://www.biorxiv.org/content/early/2017/05/30/135616, htt ps://www.biorxiv.org/content/biorxiv/early/2017/09/19/135616.full.pdf
  8. Anhang (Supplement) zu 7: https://www.biorxiv.org/content/biorxiv/suppl/2017/09/19/135616 .DC4/135616-1.pdf
  9. Analysis of ancient human mitochondrial DNA from Verteba Cave, Ukraine: insights into the origins and expansions of the Late Neolithic-Chalcolithic Cututeni-Tripolye Culture Ken Wakabayashi, Ryan Schmidt, Takashi Gakuhari, Kae Koganebuchi, Motoyuki Ogawa, Jordan Karsten, Mykhailo Sokhatsky, Hiroki Oota doi: https://doi.org/10.1101/217109, 10.11.2017, https://www.biorxiv.org/content/early/2017/11/10/217109
  10. Ancient European dog genomes reveal continuity since the early Neolithic Laura Botigue, Shiya Song, Amelie Scheu, Shyamalika Gopalan, Amanda Pendleton, Matthew Oetjens, Angela Taravella, Timo Seregély, Andrea Zeeb-Lanz, Rose-Marie Arbogast, Dean Bobo, Kevin Daly, Martina Unterländer, Joachim Burger, Jeffrey Kidd, Krishna R Veeramah doi: https://doi.org/10.1101/068189, https://www.nature.com/articles/ ncomms16082, https://www.biorxiv.org/content/early/2017/03/15/068189
  11. Bading, Ingo: 3.100 v. Ztr.: Der Rinderwagen in der Weltgeschichte - Prozessionen an Königsgräbern lassen um 3.100 v. Ztr. staatliche Strukturen in Norddänemark erkennen. Studium generale, 21. Oktober 2010, http://studgendeutsch.blogspot.de/2010/10/3100-v-ztr-der-rinderwagen-in-der.html
  12. Meller, Harald; Krause Johannes und andere: Vorwort zum Tagungsband "Migration und Integration von der Urgeschichte bis zum Mittelalter. 9. Mitteldeutscher Archäologentag, 20.-22. Oktober 2016 in Halle. Landesamt für Denkmalpflege, Halle 2017. Available from: https://www.researchgate.net/publication/320866192_Migration_and _Integration_from_Prehistory_to_the_Middle_Ages [accessed Nov 23 2017]
  13. Genomics of Mesolithic Scandinavia reveal colonization routes and high-latitude adaptation. Autoren: Torsten Günther, Helena Malmström, Emma Svensson, Ayça Omrak, Federico Sánchez-Quinto, Gülşah M. Kılınç, Maja Krzewińska, Gunilla Eriksson, Magdalena Fraser, Hanna Edlund, Arielle R. Munters, Alexandra Coutinho, Luciana G. Simões, Mário Vicente, Anders Sjölander, Berit Jansen Sellevold, Roger Jørgensen, Peter Claes, Mark D. Shriver, Cristina Valdiosera, Mihai G. Netea, Jan Apel, Kerstin Lidén, Birgitte Skar, Jan Storå, Anders Götherström, Mattias Jakobsson doi: https://doi.org/10.1101/164400, 30.7.2017, https://www.biorxiv.org/content/early/2017/07/30/164400
  14. Bading, Ingo: Neue Forschungen zur Entstehung der Indogermanen - Wie entstanden die modernen europäischen Völker? - Ancient-DNA-Forscher David Reich berichtet über den aktuellen Forschungsstand. Auf: Studium generale, 2. Juli 2017, http://studgendeutsch.blogspot.de/2017/07/neue-forschungen-zur-entstehung-der.html
  15. Bading, Ingo: Was macht uns Europäer genetisch so einzigartig? Die ancient-DNA-Forschung entwirft ein völlig neues und unerwartetes Bild vom Werden der europäischen Völker. Auf: Studium generale, 10. Juli 2017, http://studgendeutsch.blogspot.de/2017/07/die-trichterbecher-leute-standen.html
  16. Bading, Ingo: Ancient-DNA-Forschung und Physische Anthropologie gegenüber gestellt Wie nehmen sich die Forschungsergebnisse der bisherigen Physischen Anthropologie aus vor den jüngsten Ergebnissen aus der ancient-DNA-Forschung? Auf: Studium generale, 27. Juli 2017, http://studgendeutsch.blogspot.de/2017/07/ancient-dna-forschung-und-physische.html
  17. Bading, Ingo: Dienen Menschenopfer der Stabilisierung menschlicher Gesellschaften seit vielen Jahrtausenden? Neue Forschungsergebnisse zur Funktion von kultischen Männerbünden und Menschenopfern. Auf: GA-j!, 29. Juli 2017, http://studgenpol.blogspot.de/2017/07/kultische-geheimbunde-haben-sie.html
  18. Melinda A. Yang, Qiaomei Fu: Insights into Modern Human Prehistory Using Ancient Genomes. Review. In: Trends in Genetics Volume 34, Issue 3, March 2018, Pages 184-196, Available online 25 January 2018. https://doi.org/10.1016/j.tig.2017.11.008, https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S016895251730210X
  19. Paleolithic DNA from the Caucasus reveals core of West Eurasian ancestry. Autoren: Iosif Lazaridis, Anna Belfer-Cohen, Swapan Mallick, Nick Patterson, Olivia Cheronet, Nadin Rohland, Guy Bar-Oz, Ofer Bar-Yosef, Nino Jakeli, Eliso Kvavadze, David Lordkipanidze, Zinovi Matzkevich, Tengiz Meshveliani, Brendan J. Culleton, Douglas J. Kennett, Ron Pinhasi, David Reich. 21.9.2018, bioRxiv 423079; doi: https://doi.org/10.1101/423079, https://www.biorxiv.org/content/early/2018/09/20/423079 
  20. Bading, Ingo: Jäger und Sammler im Kaukasus - Ganz unterschiedliche Völker 22.000 und 9.000 v. Ztr., 4.10.2018, aktualisiert 9.7.2019, https://studgendeutsch.blogspot.com/2018/10/jager-und-sammler-im-kaukasus-ganz.html 
  21. Meller, Harald, Michel, Kai: Die Himmelsscheibe von Nebra. Der Schlüssel zu einer untergegangenen Kultur im Herzen Europas. Propyläen 2018