Montag, 3. Oktober 2016

Die Tsimane in Brasilien - Ihr gegenseitiges Helfen untereinander

Arbeitsteilungs-Assymetrien, Verwandtschaft und Gegenseitigkeit 
- In einfachen arbeitsteiligen, menschlichen Wirtschaftssystemen

Peter Hammerstein, Professor für Theoretische Biologie an der Humboldt-Universität Berlin, hat 2003 darauf hingewiesen, daß im Tierreich gegenseitige Hilfe keineswegs so allseits verbreitet und vorherrschend ist wie das lange angenommen worden war und wie das ja für den Verwandten-Altruismus auf jeden Fall gilt (1). 

Deshalb ging er schon spätestens ab 1994 Assymetrien in Gegenseitigkeits-Verhältnissen beim Menschen nach, weil Assymetrien - z.B. in Angebot und Nachfrage - zur Stabilisierung von Gegenseitigkeitsverhältnissen beitragen können (siehe z.B.: "Angebot und Nachfrage bestimmen den Erfolg bei der Partnerwahl hinsichtlich Kooperation, Gegenseitigkeit und Partnerfindung" [2]).

Der Züricher Evolutionäre Anthropologe Adrian Jaeggi und seine Mitarbeiter sind nun bei einem brasilianischen Indianerstamm, den Tsimane, solchen Assymetrien in gegenseitigen Austauschverhältnissen noch genauer nachgegangen (3, 4).

Ergebnis: 

Fleisch wurde innerhalb der Gruppe häufiger gegen Fleisch und Gartenprodukte eingetauscht, aber nicht für Gartenarbeit, Kinder- und Krankenbetreuung. Kinderbetreuung wurde geleistet im Austausch gegen Gartenarbeit, Kinder- und Krankenbetreuung, aber nicht im Austausch gegen Fleisch.

Das heißt: materielle Dinge, die schwerpunktmäßig Männer "erwirtschaften", werden gegen materielle Dinge eingetauscht, während soziale Fürsorge, die schwerpunktmäßig von Frauen erbracht wird, gegen soziale Fürsorge getauscht wird (Abb. 1).

Übrigens wurden in der Regel 100 Kilokalorien Fleisch gegen 300 Kilokalorien Gartenprodukte eingetauscht. Wenn das Angebot an Fleisch allerdings größer war, konnte sein Preis auch sinken.*) In einem kommentierenden und erläuterndenArtikel zu diesen Forschugnsergebnissen schrieben Fachkollegen (3):
"Eine lange Lebenszeit und ein Nahrungserwerb, der in Nischen stattfindet, in denen intensiv Fähigkeiten erworben werden müssen, erhöhen einerseits den Gewinn, der aus Spezialisierung gezogen werden kann, schaffen andererseits aber auch eine Abhängigkeit zwischen und innerhalb der Generationen, durch die die Kooperation stabilisiert und die Arbeitsteilung gefördert wird - schon in einfachen Wirtschaftssystemen."
"Humans’ slow life history and skill-intensive foraging niche increase the payoffs to specialization and create interdependence within and among generations, thus stabilizing cooperation and fostering divisions of labor even in informal economies."
Die Forscher meinen, das weitere Wachstum sozialer Komplexität beim Menschen wäre dann insbesondere durch kulturelle Normen und Institutionen stabilisiert worden.

Abb. 1: Zusammenfassung der Forschugnsergebnisse, aus: 4

In meiner eigenen  Forschungsarbeit gehe ich schwerpunktmäßig einer anderen These nach: Warum sollte Spezialisierung in einer komplexen, arbeitsteiligen Gesellschaft nicht auch von Verwandtenaltruismus geleitet sein, wo sie doch - das ist ja das Prinzip - die Kosten (für den Altruisten) erniedrigt und den Nutzen (für die Nutznießer) erhöht - ?

Dieser Zusammenhang gilt übrigens auch schon bei der geschlechtlichen Arbeitsteilung der Tsimane. Genau dieser Zusammenhang ist ja auch die beschriebene "assymetrische Gegenseitigkeit", die auf Spezialisierung beruht. Allerdings ist der durchschnittliche genetische Verwandtschaftsgrad bei so kleinen, endogamen Gruppen sowieso schon so hoch, daß ein großer Teil der hier feststellbaren gegenseitigen Hilfe vermutlich als Verwandtenaltruismus zu beschreiben ist. Deshalb können die Forscher in ihrer Studie auch gar nicht "reinen" Gegenseitigkeits-Altruismus erforscht haben. Dessen sind sie sich auch bewußt, schreiben sie doch:
"Die wechselnde Bedeutung des Prinzips Gegenseitigkeit wie sie durch die langfristigen Ungewißheiten zwischen Geben und Nehmen bezeugt sind, könnten in einem Gleichgewicht bestehen mit dem Prinzip Verwandtschaft oder dieses sogar an Bedeutung übertreffen." 
"The relative importance of reciprocity, as evidenced by long-term contingencies between giving and receiving, may equal or outweigh that of kinship."
Insbesondere aber schreiben sie:
"Verwandtschaft war über alle Austauschbeziehungen hinweg verbunden mit einem größeren Umfang in den gewährten Sach- und Hilfeleistungen."
"Kinship was associated with greater giving for all commodities."
Und noch genauer:
"Das Prinzip Verwandtschaft wird am ehesten die Grundlage bilden für die ursprüngliche Auswahl der Menschen, mit denen Gegenseitigkeitsbeziehungen eingegangen werden."
"Kinship most likely provides a basis for the initial assortment of reciprocators".
Trotz ihres zum Teil irreführenden Titels und diesbezüglich vieler irreführender Textabschnitte handelt diese Studie also wiederum (!) vornehmlich vom: Verwandten-Altruismus. Welcher Altruismus hier ganz unabhängig von genetischer Verwandtschaft geleistet wird, dieser Frage gehen die Forscher überhaupt nicht nach. Ihnen scheint die Klärung dieser Frage auch nicht besonders wichtig zu sein. Dieser Punkt ist vielleicht der wichtigste Kritikpunkt an dieser Studie.

Dementsprechend erschien unter den nachfolgenden Studien, in denen diese zitiert wird, 2018 auch eine mit dem Titel: "Kinship underlies costly cooperation in Mosuo villages" (5). Diese Studie beinhaltet Netzwerkanalysen von Austauschbeziehungen in einer bäuerlichen Gesellschaft in Südchina.

/2016 auf Google-Plus eingestellt, 
überarbeitet auf diesen Blog 
übernommen: 9.3.2020/
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*) Im genaueren Wortlaut einer Zusammenfassung der Forschungsergebnisse (3):
"Fleisch wurde häufiger gegen Fleisch und für Gartenprodukte getauscht, aber nicht für Gartenarbeit, Kinder- oder Krankenbetreuung, während für Kinderbetreuung Gegenleistungen erbracht wurden auf dem Gebiet der Gartenarbeit, der Kinder- und Krankenbetreuung, aber nicht in Form von Fleisch. Diese Ergebnisse legen nahe, daß der größte Teil der Austauschbeziehungen durch Spezialisierungen bestimmt wird, die innerhalb von Wohlstandsklassen ausgebildet werden: Materielles Kapital wird eingetauscht gegen materielles Kapital, soziales Kapital wird eingetauscht gegen soziales Kapital. Die Spezialisierungen gründen auch auf einer Arbeitsteilung, die von Alter und Geschlecht bestimmt wird: erwachsene Männer widmen mehr Aufwand der Gewinnung von Fleisch und der Gartenarbeit als Frauen, während Frauen mehr Zeit dem Ernten von Gartenprodukten und der Fürsorge der Mitmenschen widmen als Männer. Und heranwachsende Mädchen widmen anteilmäßig mehr Zeit der Kinderbetreuung als heranwachsende Jungen."
Original: "Meat was exchanged more often for meat and for garden produce, but not for garden labor, childcare, or sickcare, while childcare was exchanged for garden labor, childcare, and sickcare, but not meat. These analyses suggest that most trade is patterned by labor specializations occurring within wealth classes: material capital for material capital and social capital for social capital. These specializations are also based on divisions of labor based on age and gender: adult males dedicate more effort to meat production and garden labor than females, while adult females spend more time harvesting garden produce and caring for the infirm than males, and adolescent females allocate proportionally more time to childcare than adolescent males."
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  1. Hammerstein, P. (2003). Why is reciprocity so rare in social animals? A protestant appeal. In Genetic and Cultural Evolution of Cooperation, ed. P. Hammerstein, pp. 84-93, Cambridge, MA: MIT Press.
  2. Noë, R. & Hammerstein, P. (1994). Biological markets: Supply and demand determine the effect of partner choice in cooperation, mutualism and mating. Behavioural Ecology and Sociobiology, 35, 1-11
  3. Shane J. Macfarlan: Social Evolution: The Force of the Market. In: The Cell, 2016, http://www.cell.com/current-biology/abstract/S0960-9822(16)30793-X
  4. Adrian Jaeggi et.al.: Reciprocal Exchange Patterned by Market Forces Helps Explain Cooperation in a Small-Scale Society. 2016, https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0960982216306583
  5. Kinship underlies costly cooperation in Mosuo villages Matthew Gwynfryn Thomas , Ting Ji , Jiajia Wu , QiaoQiao He , Yi Tao and Ruth Mace Published:21 February 2018, https://doi.org/10.1098/rsos.171535 

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