Sonntag, 30. Juni 2013

Multikulti - Bringt die Evolution nicht voran

Wer einmal einen Einblick haben will in das, was an der vordersten Front der Forschung derzeit in der ganz klassischen Biologie geschieht, dem kann ein neuer Artikel von einem Forscher aus Oxford empfohlen werden (1). (Der Artikel scheint nirgendwo in der deutschen Wissenschaftspresse behandelt worden zu sein. Grund genug, hier einmal auf die wesentlicheren Inhalte aufmerksam zu machen.)

Am Übergang von der Einzelligkeit zur Vielzelligkeit


Die Natur hat sehr vielfältig experimentiert am Übergang von der Einzelligkeit zur Vielzelligkeit. Es gibt da so berühmte Beispiele wie die Grünalge Volvox oder den Schleimpilz Dictyostelium. Sie gehören zu den einfachsten Formen von Vielzelligkeit in der Natur. Und sie sind nicht nur naturwissenschaftlich, sondern auch philosophisch von großem Interesse. Spätestens seit der deutsche Evolutionsbiologe August Weismann auf die Einführung des Alterstodes gleichzeitig mit der Einführung der Vielzelligkeit in der Evolution, die mit solchen Organismen einhergeht, hingewiesen hat. Warum es den gesetzmäßigen Alterstod überhaupt gibt in der Evolution und im Leben, ist ein bis heute von der Naturwissenschaft weitgehend ungeklärtes Problem. Da herrschen die vielfältigsten Theorien vor.

Abb. 1: Dictyostelium in der späten Aggregations-Phase
Philosophisch wurde die Tatsache der Einführung des Alterstodes in der Evolution erstmals von einer Schülerin von August Weismann, von Mathilde Ludendorff (1874 - 1966), ausgewertet. Soweit übersehbar hat es andere Philosophen, die in ihrer Nachfolge ähnliches versucht haben, bisher nicht gegeben. Wissenschaftlich weitergeführt worden sind die Forschungen - auf der Grundlage der Erkenntnisse von August Weismann und auch von Mathilde Ludendorff - unter anderem durch Gerold Adam (1933 - 1996) in Konstanz.

Gerold konnte sehr eindrucksvoll von dem Schleimpilz Dictyostelium erzählen. Und von jenen Notzeiten, wenn sich viele tausende von Einzelzellen, von einer "Ruferzelle" gerufen, "aggregieren", zusammenballen. "Die Massen rotten sich zusammen", ein gemeinsamer Wille beherrscht sie plötzlich. Und wie sie einen großen Zellstaat bilden. Und wie sich dieser Zellstaat - wie eine Nacktschnecke - günstigere Standortbedingungen sucht. Und wie dann jene Zellen, die zuvor gerufen hatten und zuerst auf den Ruf gehört hatten, schließlich den Stil bilden eines kleinen Pilzes. Und wie sie auf diesem Stil die übrigen Zellen als eine ("Frucht-")Kugel emporschieben. 


Das ist auch auf Wikipedia gut beschrieben., allerdings in z.T. argem Fachchinesisch. Man könnte diesen Lebenszyklus auch ganz anders beschreiben, etwa unter Bezugnahmen auf vielerlei Ereignisse in der Geschichte komplexer menschlicher Gesellschaften. Wie etwa auf den Ruf eines Herrschers aus allen Teilen des Landes die Menschen zu seinem Regierungssitz strömen, wie eine allgemeine Bewegung das gesamte Volk ergreift, wie Völker sich auf Wanderschaft begeben. Und wie, damit die anderen überleben, sich ein Teil des Volkes auf irgendeine Weise für den anderen Teil des Volkes aufopfert.

Jedenfalls: In der nächsten Lebensphase dieses Pilzes Dictyostelium schwärmen die Zellen der hochgeschobenen Kugel wieder aus, während die Zellen des Stils sterben, zugrunde gehen. Sie haben ihre Zellteilungsfähigkeit verloren. Damit tritt erstmals der gesetzmäßige Alterstod in der Evolution auf. Die ("genialeren") Ruferzellen und die frühesten Zellen, die auf den Ruf gehört haben, hatten den Stil gebildet und haben sich für die anderen Zellen, die Fortpflanzungszellen, aufgeopfert, indem sie ihnen eine erhöhte Ausgangsposition für erneute Verbreitung verschafften. Eine der frühesten und ältesten Formen von Altruismus in der Welt des Organischen.

Eine der ältesten Formen von Altruismus in der Welt des Organischen


Und der neue Artikel (1) nimmt nun die heute bekannte Vielfalt von solchen Formen des Übergangs zwischen Einzelligkeit und Vielzelligkeit in mehreren Zweigen des Artenstammbaums von Bakterien, Schleimpilzen, Grünalgen insgesamt und vergleichend in den Blick. Und er stellt hierbei fest, daß die genetische Verwandtschaft zwischen den aggregierenden, sich zusammenballenden Zellen von ausschlaggebender Bedeutung ist dafür, ob und wie komplex die Vielzelligkeit ist, die dann in der Folge ausgebildet wird. Im Artenvergleich wird Vielzelligkeit um so häufiger und um so komplexer ausgebildet, um so mehr die Einzelzellen der jeweiligen Art, die sich zusammenballen, miteinander genetisch verwandt sind, bzw. wenn sie genetisch miteinander identisch sind.

Das klingt zwar von vornherein plausibel. (Nur womöglich nicht für Anhänger multikultureller Gesellschaften.) Aber das mußte doch erst einmal vergleichend und auf statistischer Basis solide nachgewiesen werden. Wenn das nun erst im Jahr 2013 geschieht, merkt man daran, wie lange die Forschung manchmal dafür braucht, ganz einfache Fragestellungen zu klären. Aber da die genetische Verwandtschaft auch bei der Ausbildung von gesellschaftlicher Komplexität von Insektenstaaten erst vor einigen Jahren wieder intensiver erforscht worden ist (Stud.gen. 6/2008), werden auch die Mikrobiologen sich einmal aufgefordert gesehen haben, hier die Zusammenhänge genauer in den Blick zu nehmen.

In der Regel stammen die sich zusammenballenden Zellen alle nur von einer einzelnen Zelle ab, die sich zuvor viele male geteilt hatte. (Sie bildeten etwas, was in der Wissenschaft - und auch in diesem Artikel - "Klon" genannt wird.) Und deshalb sind sie alle wie "eineiige Zwillinge". Es gibt aber auch Arten, bei denen der genetischen Verwandtschaft bei der Aggregation, der Staatenbildung, keine so große Beachtung zugemessen wird. Man könnte sagen, das waren die "multikulturellen Gesellschaften" der damaligen Zeit. Oder auch die "Patchwork-Familien" der damaligen Zeit, die ja auch heute wieder so "hip" sind (also "angesagt" sind [bzw. als "schick" oder "trendy" gelten]). Diese Form der Aggregation und Staatenbildung hat jedenfalls in der Evolution von Vielzelligkeit und vielzelliger Komplexität bei weitem nicht so viel Erfolg gehabt, wie die erstgenannte.

"Multikulturelle Gesellschaften" der damaligen Zeit


In dem Artikel wird unterschieden zwischen obligater (sprich gesetzmäßiger) Vielzelligkeit im Lebenszyklus einer Art und fakultativer Vielzelligkeit. Bei der fakultativen Vielzelligkeit ist die Fortpflanzung der Art nicht zwingend davon abhängig, daß Vielzelligkeit ausgebildet wird. Alle Säugetiere beispielsweise sind obligate Vielzeller. Sie können sich nur dann fortpflanzen, wenn eine vielzellige Lebensphase ausgebildet wird. Dies ist also die komplexere Lebensform. Außerdem werden die Zahlen der sterilen, also dem Todesmuß verfallenen Zellen des ausgebildeten Vielzellers miteinander verglichen. Und auch die Zahl der dabei ausgebildeten Zelltypen (analog zu den Kasten der Insektenstaaten).

Sprich, im Artvergleich gilt: Um so mehr die Zellen miteinander genetisch verwandt sind, die sich zusammenballen zu einem vielzelligen Organismus, um so komplexer ist der Vielzeller, der dabei ausgebildet werden kann, gemessen an den eben genannten Kriterien.


Das Bild der Evolution vereinheitlicht sich zunehmend


Und mit diesem Forschungsergebnis vereinheitlicht sich immer mehr ein Bild von der Evolution überhaupt, das in den letzten Jahren gewonnen wird. (Und worüber es auf diesem Blog vor fünf Jahren schon mehrere Artikel gegeben hat: 11/2007, 6/2008, [9/2008], 5/2009, [7/2007].) 

Auch bei der Ausbildung von arbeitsteiligen Gesellschaften von Insekten bildet die genetische Verwandtschaft die ausschlaggebende Rolle, worauf erst vor wenigen Jahren in einem aufsehenerregenden Artikel (Hughes et. al. - und zwar gegen Edward O. Wilson's neue "Superorganismus"-Theorie gewandt) hingewiesen worden ist. Diese wird durch monogame Lebensweise der Staatengründer sichergestellt.

Und diese monogame Lebensweise hinwiederum korreliert - so nach Forschungen von Robin Dunbar - mit der evoluierten Gehirngröße über weite Teile des Artenstammbaumes der Säugetiere. Sprich: Um so monogamer eine Art lebt, um so größer  die Gehirne dieser Art (wobei die allein durch Körpergewicht bedingte Gehirngröße einer Art - wie üblich - herausgerechnet wird). Und bei den Primaten korreliert dann - nach den Forschungen von Robin Dunbar - wiederum die Gehirngröße mit der Gruppengröße, also mit jenen Tieren, die dauerhaft in einer Gruppe zusammenleben. So wie bei den Nichtprimaten monogame Paare dauerhaft zusammeleben ("Dunbar's Zahl").

Von zwei Lebensprinzipien also, die heute allerwärts in der Öffentlichkeit als besonders "fortschrittlich" und "liberal" und insbesondere auch "natürlich" propagiert werden, zeigt damit die Evolutionsforschung auf, daß diese nicht die Lebensprinzipien sind, die die Evolution (von arbeitsteiliger Komplexität und Gehirngröße) vorangebracht haben. Nämlich von den Lebensprinzipien: Polygamie und multikulturelle Gesellschaft.


Diese Tatsache dürfte einmal erneut auf die erhebliche philosophische wie auch geradezu tagespolitische und sozialethische Bedeutung evolutionsbiologischer Grundlagenforschung aufmerksam machen. Oder noch allgemeiner: Wenn wir die Lebensprinzipien unserer modernen Gesellschaften in Übereinstimmung bringen wollten mit den Erfolgsprinzipien der Evolution überhaupt, müßten wir sie auf einem ganz anderen moralischen Fundament errichten, als jenem, auf dem die derzeitigen modernen Gesellschaften errichtet sind. 

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  1. Fisher RM, Cornwallis CK, & West SA (2013). Group formation, relatedness, and the evolution of multicellularity. Current biology : CB, 23 (12), 1120-5 PMID: 23746639

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