Freitag, 17. Juli 2009

Wie breiten sich menschliche Gene und kulturelle Merkmale aus?

Welche Faktoren bestimmen die heutige Verbreitung von kulturell und genetisch bestimmten Merkmalen des Menschen?

Es kann sich dabei im wesentlichen um Zufallsfaktoren handeln. Also es kann sich etwa um das eher zufällige "Herumdriften" von genetisch und kulturell bestimmten Eigenschaften handeln. Diese Eigenschaften "driften" dann - etwa so wie ein Korken, der im Meer schwimmt - auf eher zufällige Weise über die Erdoberfläche, von Kontinent zu Kontinent. Menschen haben, bevor sie sterben, Kinder oder nicht auf eher zufällige Weise und geben an sie auf eher zufällige Weise bestimmte kulturelle Eigenschaften weiter, andere nicht.

Menschen - oder nur die von ihnen weitergegebenen kulturellen Merkmale - wandern über die Erdoberfläche oder bleiben an einem Ort, wo sie geboren wurden und wo die Merkmale entstanden sind - auch eher zufällig. Und dort werden sie von Generation zu Generation weitergegeben oder sie sterben dort wieder aus - auch eher zufällig.

Es kommt an dem einen Ort zur explosiven, zahlenmäßigen Zunahme von Trägern genetisch oder kulturell bestimmter Eigenschaften (durch Bevölkerungswachstum oder durch kulturelle "Moden", Meinungsumschwünge, Anpassungen an eine neue Lebensart, etwa an den "american", "hellenistic", "roman" oder "agrarian" "way of life"). Und an einem anderen Ort vielleicht kommt es zum implosiven Aussterben von Trägern bestimmter genetischer oder kultureller Merkmale.

All das könnte mehr oder weniger regellos, gesetzlos geschehen. Es könnte kaum vorhersehbar, kaum berechenbar sein. Wenn irgendwo vor Ort sich Träger genetischer oder kultureller Merkmale sehr plötzlich vermehren sollten, könnte das bloß ein eher zufälliges "Aufbauschen" von ebenso eher zufällig dort vorhandenen Merkmalen sein.

"Selektion" oder "Drift" - Zufall oder Regelhaftigkeit?


In all diesen Fällen würde man aus Sicht eines evolutionären Denkens sagen, daß hier überall keine oder kaum "Selektion" stattfindet, sondern bloßes "Driften" von Eigenschaften und Merkmalen. Und wenn behauptet wird, die letzten 200.000 Jahre Humanevolution wären insgesamt von "wenig Selektion" bestimmt gewesen (siehe Stud. gen., Alles was lebt), dann wird eben genau das behauptet, was eben ausgeführt worden ist. Zumindest der Tendenz nach.

Nun ist es aber so, daß sich das menschliche Denken - und im Anschluß daran erst recht die Wissenschaft - selten und höchst ungern damit zufrieden geben, wenn von bestimmten Phänomenen bloß gesagt wird, es handele sich halt um - wenig nachvollziehbare - Zufallsereignisse. Dazu ist menschliches Denken und Wissenschaft ja vor allem da, in das Chaos der dem Menschen begegnenden Erscheinungen Ordnung hineinzubringen, in ihnen Muster zu erkennen, wiederkehrende und damit irgendwie regelhafte Abläufe, Gesetzmäßigkeiten zu finden. Vielleicht sogar schließlich Kausalitäten zu entdecken, das heißt Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge. Und aus der Kenntnis derselben können dann wieder neue Schlußfolgerungen abgeleitet werden, "Nutzanwendungen".

Wir geben uns also selten einfach damit zufrieden, von einem Phänomen zu sagen, es handele sich um ein bloßes Zufalls-Ereignis. - In der Quantenphysik hat man den Charakter der Zufälligkeit und Unbestimmtheit des Umlaufbahnenwechsels eines Elektrons auch erst nach außerordentlich heftigen Debatten anerkannt. Wobei Albert Einstein wohl bis zum Ende seines Lebens daran festhielt, daß Gott "nicht würfele", daß hier also doch noch Kausalzusammenhänge vorliegen müßten.

Würfelt Gott in der Humanevolution?


Um so verwunderlicher, daß manche Wissenschaftler und Wissenschaftsberichterstatter dazu neigen, derzeit vor allem Zufallsfaktoren, statt konkrete selektive Faktoren zu betonen zur Erklärung der heutigen Verbreitung kulturell und genetisch bestimmter Merkmale des Menschen und in der Humanevolution überhaupt. Und zwar das sogar auffällig schnell, noch bevor es überhaupt zu hartnäckigen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen gekommen ist, wie sie - etwa - zwischen Heisenberg, Bohr und Einstein geführt worden sind. (siehe Stud. gen., Alles was lebt)

Ein Nebengedanke drängt sich hier auf: Überall, wo bloßer Zufall im Spiel ist im menschlichen Handeln, hat das menschliche Verantwortungsbewußtsein weniger Anlaß, sich angesprochen zu fühlen, denn dann handelt es sich ja bloß um eine weitgehend unbeeinflußbare "Glückssache" oder um "Pech". (siehe Stud. gen.). (Ebenso wenig übrigens dann, wenn ein Vorgang stur und unbeeinflußbar, "starr" gesetzmäßig abläuft.)

Wenn also irgendwo von einem Phänomen gesagt wird, es sei weitgehend ein Zufallsereignis (etwa von der Entstehung des Weltalls überhaupt, von der Entstehung des Lebens auf der Erde oder eben von der derzeitigen Verbreitung kulturell und genetisch bestimmter Merkmale des Menschen), dann könnte das auch auf der psychologischen Tendenz und Neigung von Menschen beruhen, sich von eigener Verantwortung bezüglich irgendwelcher Dinge - etwa gar der Natur insgesamt gegenüber oder der eigenen Natur gegenüber - freisprechen zu wollen. Auf diese Möglichkeit soll ja hier nur einmal hingewiesen werden. Sie soll sonst nicht Thema dieses Beitrages sein.

Wünschen wir es uns heute, daß gewürfelt worden sein soll in der Humanevolution?


(Es könnten sich hier jedenfalls immer wieder un-, halbbewußt oder bewußt naturalistische Schlüsse und Fehlschlüsse mit hineinmogeln bei der Beurteilung wissenschaftlich zu erforschender Phänomene. Das würde also dazu führen, daß man jene Aspekte hervorhebt, die einem besonders angenehm erscheinen - für das eigene Selbst- und Weltbild - und man würde versuchen zu vermeiden, solche Aspekte in ihrem Wahrheitsgehalt als richtig anzuerkennen oder zumindest ihren Wahrheitsanspruch ernsthaft zu überprüfen, die einem aufgrund naturalistischer Schlüsse und Fehlschlüsse sowieso schon irgendwie "unangenehm" oder "suspekt" erscheinen.)

Bezüglich solcher Fragen liest sich die im vorletzten Beitrag (Stud. gen.) behandelte Studie "The Role of Geography in Human Adaption" - recht "kryptisch". Sehen wir uns deshalb doch einmal nach Studien um, die sich bezüglich solcher Fragen weniger "kryptisch" lesen und darum eine erste und zugleich auch günstigere Annäherung an die eingangs gewählte Fragestellung ermöglichen.

Dazu soll hier auf den eingängigen Aufsatz "Semes and Genes in Africa" von Barry S. Hewlett (siehe Bild rechts) und Koautoren hingewiesen werden. (1, pdf., siehe auch: 2) In ihren einleitenden Überlegungen im theoretischen Teil nennen Hewlett und Mitarbeiter drei verschiedene Möglichkeiten, wie sich kulturelle Merkmale des Menschen ausbreiten können: 1. zusammen mit der Ausbreitung eines Volkes oder Stammes ("Demic diffusion"), 2. durch Übernahme ursprünglich "ausländischer", fremder Kultur aus einer anderen geographischen Region ("Cultural diffusion"), 3. dadurch, daß lokale Stämme durch Versuch und Irrtum jeweils selbständig bestimmte kulturelle Merkmale entdecken und annehmen ("Local adaption"). Im empirischen Teil untersuchen sie dann, wie es sich bezüglich dieser drei Modelle in der Empirie von 36 ethnischen Gruppen im afrikanischen Raum verhält. Für diese untersuchen sie jeweils 109 scharf umrissene kulturelle Merkmalen, wie sie im viel benutzten "Ethnographischen Atlas" (erstmals von Murdock 1967) weltweit für alle Ethnien zusammengestellt worden sind. (Z. B. Hausbauform, Eheformen, Siedlungsweise, Wirtschaftsweise und vieles andere mehr.)

Drei Möglichkeiten der Ausbreitung kultureller Merkmale


Auf die statistischen Detailerläuterungen und viele andere Detailfragen soll hier nicht weiter eingegangen werden. Ihr erstes, recht auffälliges Ergebnis ist, daß die natürliche Umwelt wenig Einfluß auf die Verbreitung der untersuchten kulturellen Merkmale hatte. Das würde also zunächst einmal schon sehr gut zu einigen Erkenntnissen der im vorletzten Beitrag behandelten Studie "The Role of Geography in Human Adaption" passen, wo ebenfalls keine sehr engen Zusammenhänge zwischen Klimazonen und genetisch bestimmten Eigenschaften des Menschen festgestellt worden sind (obwohl es sich unter anderem um Hautfarben-Gene handelte), wo aber solche engen Zusammenhänge zwischen genetisch bestimmten Eigenschaften und dem genetischen Verwandtschaftsgrad überhaupt zwischen Bevölkerungen sehr wohl festgestellt worden sind.

Dieses Ergebnis von Hewlett und Mitarbeitern würde - sollte es sich verifizieren und auch die Genetik deutet in diese Richtung - schon so an dem einen oder anderen Lehrsatz der modernen Völkerkunde (Ethnologie, Kulturanthropologie) rütteln, die eben zunächst einmal besonders eine recht paßgenaue genetische und kulturelle Anpassung an die natürlichen Klimaverhältnisse vor Ort unterstellen. Das wäre ja zunächst auch eine der simpelsten und sparsamsten Hypothesen.

Hewlett und Mitarbeiten führen weiter aus, daß sie - entsprechend ihrer Detailstatistik - für 45 der untersuchten 109 kulturellen Merkmale (also für 41 % von ihnen) Erklärungsmodelle der im theoretischen Teil erörterten Art zuordnen können. Für die restlichen kulturellen Merkmale bieten sich noch mehrere unterschiedliche Erklärungsmodelle gleichzeitig an, von denen die Forscher noch keine Gründe wissen, warum sie für sie ein Erklärungsmodell für die Ausbreitung eines kulturellen Merkmals dem anderen gegenüber bevorzugen sollten. Und nun das Hauptergebnis weiter in wörtlicher Wiedergabe (in Eigenübersetzung):
Das demische Diffusionsmodell erklärt die größte Zahl der kulturellen Merkmale (20) und war besonders wichtig, um Verwandtschaft, Familie und (dörfliches, staatliches) Gemeinschaftsleben zu erklären. Die Daten stimmen überein mit den Ergebnissen jüngster Studien (...), die nahelegen, daß Verwandtschaft und Sozialorganisation in Afrika und anderen kulturellen Regionen die Ausbreitung von Gruppen mit bestimmten Arten von Verwandtschaft und Sozialorganisation wiederspiegelt. (...) Es sind dies die klassischen Merkmale südsaharischer, afrikanischer, sozialer Strukturen: unabhängige polygyne Familien mit Frauen in seperaten Behausungen, keine Heirat mit Cousins/Cousinen ersten oder zweiten Grades, clan-basierte Nachbarschaften und shifting cultivation (z.B. Gartenbau). Das demische Diffusionsmodell war ebenfalls besonders wichtig zur Erklärung politischer Stratifikation (Schichtung) oberhalb der Dorfebene. Die Daten legen nahe, daß die politische Komplexität in Afrika vornehmlich auf die Ausbreitung bestimmter Völker zurückzuführen ist und nicht auf kulturelle Diffusion oder lokale Anpassung.

(...) Kulturelle Diffusion erklärte 12 kulturelle Merkmale und war besonders nützlich, um die Verteilung von Hausbauformen und des nachgeburtlichen Verbotes der geschlechtlichen Gemeinschaft zu erklären.
Dieses Forschungsergebnis kann man zunächst einmal auf sich wirken lassen. Der häufigste Fall von Ausbreitung kultureller Merkmale würde also dadurch geschehen, daß ein Stamm einen größeren Bevölkerungszuwachs hat als andere Stämme und dadurch zusammen mit seinem Bevölkerungszuwachs zugleich auch die damit zusammenhängenden kulturellen Merkmale ausbreitet.

Völker breiten sich aus und mit ihnen kulturelle Merkmale


Sicherlich nicht gerade einer der ungewöhnlichsten Fälle, was die Humanevolution und Weltgeschichte überhaupt betrifft. In Nordamerika vermehrt sich etwa das kulturelle Merkmalsmuster "Lebensweise als Amischer" oder "Lebensweise als Hutterer" ebenfalls so gut wie ausschließlich aufgrund des demischen Modells, nämlich aufgrund der Tatsache, daß sich die Populationen der Amischen und Hutterer fast alle 25 Jahre schlichtweg verdoppeln. (Aufgrund ihres Kinderreichtums.)

Wenn man nun noch die oben genannte Erkenntnis dazu nimmt, daß sich möglicherweise auch genetisch bestimmte Merkmale des Menschen vor allem durch ethnisch bestimmte Gemeinschaften ausbreiten (wie man auch an den indischen Stämmen des vorigen Beitrages erkennen konnte und wie man sicherlich auch am Bevölkerungszuwachs staatstragender Mehrheitsbevölkerungen wie der Han-Chinesen erkennen kann), dann schält sich doch mehr oder weniger einfach eine Gesetzmäßigkeit der Humanevolution heraus:

Es mag - weltgeschichtlich gesehen - "flüchtige" kulturelle Diffussion von Lebensweisen geben, nennen wir sie Christentum, nennen wir sie Hellenismus, nennen wir sie globalisierenden "american way of life". Solange sich Ethnien durch diese weltgeschichtlichen "Moden" nicht gar zu sehr beirren lassen und etwa - wie in Indien - trotz Missionierung sich ihren endogamen und sonstigen kulturellen Zusammenhalt bewahren, bewahren sie damit zugleich auch ihr jeweils einzigartiges Muster von kulturell und genetisch bestimmten Merkmalen. Geben sie diesen Zusammenhalt auf, gehen sie einfach - wie etwa in China - in größeren kulturellen und genetischen "Kommunen" auf. Aber auch diese größeren genetischen und kulturellen "Kommunen" gingen hervor aus Ursprungsbevölkerungen, die ursprünglich mit jenen vergleichbar waren, die nun in sie aufgehen.

Humanevolution und Kulturgeschichte vollziehen sich im Wesentlichen in Ethnien


Die Quintessenz dieser Ausführungen wäre also schlicht: Humanevolution und menschliche Kulturgeschichte vollziehen sich im wesentlichen in Ethnien und Völkern und haben sich auch im Wesentlichen nie anders vollzogen. Und es scheint auch kein einziges weltgeschichtliches oder völkerkundliches oder humangenetisches Beispiel zu geben, wo sich all das nun alles ganz anders verhalten hätte oder verhalten würde.

Denn selbst wenn sich bei der Ethnogenese, bei der Entstehung von Völkern vormals ganz unterschiedliche Ausgangspopulationen miteinander verschmelzen sollten (in einem "melting pot of races"), so wäre das Ergebnis ja dennoch wieder eine Ethnie (siehe etwa die von Derek Bickerton erforschten, neu entstandenen Kreolen-Sprachen und die sich mit ihnen potentiell neu formierenden "Ethnien"). (Möglicherweise sind nach diesem Modell viele Sprachen, etwa auch das Deutsche, das Englische, das Französische zunächst einmal ihrer Natur nach - also während der Ethnogenese dieser Völker selbst - "Kreolen-Sprachen" gewesen.) Die menschliche Psyche selbst scheint - schon über die tiefgreifenden, frühen Prägungsmechnismen was Mutterspachen-Erwerb und kindlichen Sprachgebrauch betrifft - in sehr tiefgehender Weise ethnischer Natur zu sein. Und dementsprechend auch viele wesentliche Elemente der Kultur und der Häufigkeitsverteilung von Verhaltens- und Wahrnehmungsgenen.

- Ein Essay von Paul R. Ehrlich und Simon A. Levin betitelt "The Evolution of Norms" in PLoSBiology vom Juni 2005 (2) (siehe auch "Spektrum Direkt" dazu) trägt zu der hier behandelten Thematik zwar keine eigenen empirischen Forschungen vor, scheint aber insgesamt die Aufmerksamkeit von der Erforschung der parallelen Evolution von Genen und Kultur, wie sie von Hewlett und anderen vorangebracht worden ist, abziehen zu wollen auf die Erforschung von bloß soziologischer, bloß kultureller Ausbreitung von Normen und Werten. Besonders interessant erscheint in dem Zusammenhang auch die Verwendung des Begriffs des "moral entrepreneuers (individuals engaged in changing norms)", also des Begriffs eines "moralischen Unternehmers", von "Individuen, die sich darin engagieren, Normen zu ändern". -

Menschliche Gene und kulturelle Merkmale breiten sich parallel aus


Natürlich wollen auch Wissenschaftler Normen verändern. Und natürlich ist auch Wissenschaft dazu angetan, implizit Normen zu verändern. Damit stellen sich Wissenschaftler zunehmend stärker an jene Stelle, die vormals Priester und andere "Geschichtenerzähler" innegehabt hatten.

Aber um die Beantwortung der Frage "Wie breiten sich kulturelle Normen aus?" abschließend noch einmal auf den Punkt zu bringen: Kulturelle Werte und Normen breiten sich in der Humanevolution, soweit wir bislang sehen, am häufigsten dadurch aus, daß ethnische Gruppen Kinder haben und sich auf diese Weise die kulturellen Werte zusammen mit der Genetik der jeweiligen Gruppen ausbreiten oder zumindest zusammen mit ihnen fortbestehen. Dies gilt, soweit wir aufgrund des Aufsatzes "Semes and Genes" annehmen können, zumindest für Afrika. Und auch die ursprünglich sogar von Cavalli-Sforza vertretene These, daß sich der Ackerbau in Europa nach 5.700 v. Ztr. im Wesentlichen kulturell und nicht demisch ausgebreitet hätte, kann inzwischen seit den Forschungen von Bryan Sykes und anderen sowohl aus der Sicht der Genetik als auch aus Sicht der Archäologie als widerlegt angesehen werden.

ResearchBlogging.orgDie Frage zu klären, wie an einen solchen Sachverhalt dann Konzepte von kultureller und genetischer Gruppenselektion und Gruppenkonkurrenz heranzutragen sind, ist wohl einer der nächsten, bedeutsamen Schritte, den die Forschung in schlüssiger und allgemeingültig nachvollziehbarer Weise aufzuzeigen haben wird.


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  1. Barry S. Hewlett, Annalisa De Silvestri, and C. Rosalba Guglielmino: Semes and Genes in Africa. In: Current Anthropology 43, no. 2 (April 2002): 313-321.  https://doi.org/10.1086/339379
  2. Ehrlich, P., & Levin, S. (2005). The Evolution of Norms PLoS Biology, 3 (6) DOI: 10.1371/journal.pbio.0030194
  3. Wilson, Edward O.; Lumsden, Charles: Das Feuer des Prometheus. Piper-Verlag 1987

Donnerstag, 16. Juli 2009

"Das größte genetische Experiment, das jemals am Menschen durchgeführt wurde"

"Das indische Kastensystem war das größte genetische Experiment, das jemals am Menschen durchgeführt wurde."
("The caste system in India was the grandest genetic experiment ever performed on man.”)
So lautet eines der vielen eingängigen Zitate, die, formuliert von berühmten biologischen Vordenkern wie Charles Darwin oder Theodosius Dobzhansky, Zusammenhänge auf den Punkt bringen und deshalb immer wieder einmal gerne zitiert werden. Nämlich dann, wenn eben auf diese Zusammenhänge selbst das Augenmerk gerichtet werden soll. Übrigens stammt auch dieses Zitat - sollte es noch jemanden verwundern? - vom "großen" Theodosius Dobzhansky. Jedenfalls ist dieses Zitat auch wieder einer neuen genetischen Studie über Indien vorangestellt worden (2, pdf.), die unter der Koautorschaft des britischen Humangenetikers Chris Tyler-Smith veröffentlicht worden ist. Und tatsächlich beherbergt Indien ja
"eine der kulturell heterogensten menschlichen Gesellschaften überhaupt",
wie es in einer anderen Studie (3) heißt. Jeder Inder gehört offiziell zu einer von 4.635 Gemeinschaften (also Ethnien oder Kasten) in Indien. Schon im Jahr 1983 war dazu in den "Annals of Human Biology" eine lesenswerte Studie erschienen mit dem Titel:
"Die Bedeutung des indischen Kastensystems hinsichtlich der evolutionären Anpassung - eine ökologische Perspektive"
("Adaptive significance of the Indian caste system: an ecological perspective")
(1, pdf.). Diese Studie des indischen Biologen Madhav Gadgil (geb. 1942) gibt einen guten Eindruck von dem vielfältigen Zusammenleben und von dem vielfältigen Aufeinander-angewiesen-Sein der zahlreichen traditionellen, endogam lebenden Stämme und Kasten in der indischen Gesellschaft. Sie gibt auch einen guten Eindruck von der jeweilig recht einzigartigen ökologischen und wirtschaftlichen Spezialisierung und "Einnischung" jeder einzelnen Kaste und jedes einzelnen Stammes sowohl in die indische Gesamtgesellschaft, als auch in die jeweiligen natürlichen Lebensbedingungen und Klimazonen vor Ort.

Ein spannendes Thema, diese vielfältigen Verflechtungen von Gruppen nun zusätzlich noch mit etwaigen jeweiligen genetischen (Fitneß-)Interessen von endogamen Stammes- und Kasten-Gruppen in Abgleich zu bringen, so wie man es ja auch schon im Titel bei dem Begriff "adaptive" heraushören mag. (Oder sie auf jeweilige "gruppenevolutionäre Strategien" hin zu untersuchen.)

Und auf solche Dinge wird dann auch tatsächlich am Ende des Aufsatzes (S. 473) hingedeutet, wenn ausgeführt wird, daß man die in diesem Aufsatz erforschten wirtschaftlichen Spezialisierungen und "Einnischungen" der jeweiligen Kasten und Stämme künftig auch noch unter der breiteren Perspektive der Gen-Kultur-Koevolutions-Theorien von Edward O. Wilson & Charles Lumsden (1981) und Luigi Luca Cavalli-Sforza & Marcus Feldman (1981) erforschen wolle. An welcher Stelle Gadgil selbst seither noch einmal auf diese Ansätze zurückgekommen ist, ist einer schnellen Literatur-Recherche nicht zu entnehmen.

Aber schon die Veröffentlichungsliste dieses innerhalb der Forschung höchstens wenigen Kennern *) bekannten indischen Anthropologen Madhav Gadgil weist viele weitere, ähnlich interessante Themen auf. Schon 1975 veröffentlichte er zum Beispiel - und zwar über Edward O. Wilson - eine theoretische Studie zum Thema Gruppenselektion (pdf.). Er könnte also zusätzlich zu der anregenden Studie von 1983 noch mancherlei Anregendes verfaßt haben oder weiterhin zu verfassen im Sinn haben.

1. In China genetische Einebnung, in Indien genetisches Kontrast-Programm zwischen Gruppen

Aber genau solche Fragestellungen werden auch schon in der genannten neuen genetischen Studie von 2008 angegangen. (2) Und zwar anhand der genetischen Vielfalt, die das Y-Chromosom bei Menschen verschiedener Stämme und Kasten in Indien aufweist. Es wird die genetische Vielfalt innerhalb und zwischen verschiedenen Stämmen und Kasten in Indien verglichen mit der genetischen Vielfalt innerhalb und zwischen "Populationen" in China. Eine Vergleichbarkeit ist ja schon insofern gegeben, als sowohl in Indien wie in China heute jeweils über 1 Milliarde Menschen leben. Hinsichtlich Chinas sind in die Studie auch so unterschiedliche ethnische Gruppen ("Populationen") mit einbezogen worden wie die Ewenken, die Tibeter, die Uiguren, die Koreaner. Daneben zahlreiche lokale Han-Gruppen und zahlreiche südchinesische ethnische Populationen, die aber zumeist heute schon sehr weitgehend "sinisiert" sind. (Deshalb wohl auch wird in der Studie durchgängig bezüglich China von "Populationen" gesprochen, während bezüglich von Indien von "Ethnien" und "Kasten" gesprochen wird.)

Nach den Ergebnissen dieser Studie sind nun die genetischen Unterschiede zwischen den heutigen Stämmen und Kasten in Indien deutlich "kontrastreicher", "konturenreicher", "unebener" als zwischen den heutigen "Populationen" in China, sogar dann, wenn in China solche Gruppen wie die Uiguren mit hineingenommen werden. Einerseits ist also - insgesamt gesehen - die genetische Einheitlichkeit innerhalb der Stämme und Kasten Indiens größer als die genetische Einheitlichkeit innerhalb der jeweiligen untersuchten Populationen Chinas. Andererseits ist die genetische Vielfalt zwischen den Stämmen und Kasten Indiens größer als die zwischen den Populationen Chinas.

Während also innerhalb von China die genetischen Populationsunterschiede im Vergleich zu Indien mehr "eingeebnet" erscheinen - wie gesagt, sogar unter Einschluß solcher Gruppen wie der Uiguren -, scheinen sie in Indien deutlicher prononciert und "unebener", "bergiger" in den genetischen Häufigkeitsverteilungen zu sein.

Es drängt sich geradezu der Eindruck auf - und dies wäre schon Teil einer selbständigeren Interpretation der Ergebnisse dieser Studie -, als ob der starke kulturelle Trend zur konfuzianischen "Vereinheitlichung" und zum Konformismus in China, zur "Sinisierung" seit hunderten oder tausenden von Jahren - man kann sicherlich auch sagen: der kulturelle "Druck" diesbezüglich innerhalb der dominierenden Han-Bevölkerung und von dieser auch gegenüber anderen ethnischen Gruppen - sich auch auf genetischer Ebene in Richtung auf eine stärkere Einebnung genetischer Unterschiede zwischen Gruppen ausgewirkt hat. Also auf eine gleichmäßigere Verteilung der genetischen Vielfalt auf die Gesamtbevölkerung. Auf eine Einebnung von genetischen Gruppenunterschieden - zumindest im Vergleich zu Indien. Die genetische Vielfalt ist jedenfalls innerhalb der chinesischen (Sub-)Populationen größer und zwischen den chinesischen (Sub-)Populationen geringer als in Indien.

2. Nicht die Kasten, sondern die Stämme in Indien stellen "das größte genetische Experiment am Menschen" dar

In Indien weist nun zusätzlich noch die ältere und hier offenbar auch noch besser erhaltene soziale und kulturelle Lebensform des "Stammes" eine geringere "innerstammliche" genetische Vielfalt auf - noch heute, als sowohl die Kasten in Indien als auch die "Populationen" in China. Das heißt, sie weist eine größere genetische Einheitlichkeit auf. Und die vielleicht in der Spätbronzezeit (um 1.500 v. Ztr.) auf der Grundlage vieler städtischer Vorgängerkulturen in Indien eingeführte soziale Lebensform der "Kaste" weist demgegenüber - also verglichen mit den indischen Stämmen - eher in Richtung Einebnung der genetischen Gruppenunterschiede. Diese genetische Einebnung ist aber bei den indischen Kasten noch nicht so weit gegangen, wie in China zwischen den verschiedenen Populationen.

Würden sich diese Forschungen bestätigen, wären sie schon einmal einigermaßen frappierend. Welche Schlußfolgerungen aber könnten aus diesen Ergebnissen abgeleitet werden, zumal, wenn versucht wird, sie in Abgleich zu bringen mit den Ansätzen der Studie von 1983?

Gadgil legte 1983 den Schwerpunkt der Argumentation auf die Tatsache der Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende langen Koexistenz von unterschiedlichen Gruppen, die durch die Umsicht und Sorgfalt ("prudence"), ja, Rücksichtnahme gegenüber der Ökologie ihres Lebensraumes und auch gegenüber jeweilig koexistierenden ethnischen Gruppierungen gekennzeichnet gewesen wäre. Jahrhunderte lange kulturelle Koexistenz hat hier also zusammen mit der Aufrechterhaltung der ethnischen Heiratsschranken zu einer prononcierten Verteilung der genetischen Gruppenvielfalt geführt.

Führen Verwandten-Altruismus und/oder altruistisches Bestrafen zu Rücksichtnahme zwischen unterschiedlichen ethnischen Gruppen in Indien?

Ein weitergehender Gedankengang wäre: Größere genetische Einheitlichkeit innerhalb eines Stammes oder einer Kaste könnte Verwandten-Altruismus fördern. Oder besser gesagt: Der Zusammenhalt des Stammes oder der Kaste selbst könnte durch verwandten-altruistische Motivationen stabilisiert worden sein. (Siehe etwa die Forschungen von Frank Salter und anderen.) Andererseits aber wäre es erforderlich, in eine allgemeinere Theorie der Evolution menschlichen sozialen Verhaltens miteinzubeziehen, daß eine Herabsenkung der genetischen Einheitlichkeit innerhalb einer Population und eine Verringerung der genetischen Unterschiede gegenüber anderen Populationen durch andere, evolutiv jüngere Formen von Altruismus und Kooperationsbereitschaft kompensiert werden müßten, als jene, die durch verwandten-altruistische Motivationen hervorgerufen werden.

Da denkt man zuerst an Institutionen und religiöse Vorstellungen, die durch einen tatsächlichen oder vorgestellten "dritten Bestrafer" im gesellschaftlichen "Third-Party-Punishment-Spiel" egoistisches Täuschen und Trittbrettfahren im sozialen Austausch von Leistungen verhindern oder vermindern können. (Das sogenannte "altruistische Bestrafen" durch gegenseitige soziale Kontrolle, bzw. die Überwachung durch unbeteiligte Dritte wie Polizisten, Götter, Priester und andere Dinge mehr.)

Gruppenkonkurrenz? Gruppenselektion?

In jedem Fall deutet sich an, daß in dem über so viele Jahrhunderte hinweg auch vergleichsweise harmonischen Zusammenleben von Gruppen in Indien Vorgänge von "Gruppenkonkurrenz" oder gar von "Gruppenselektion" in etwas anderer Weise abgelaufen sein könnten, als zeitgleich in China. Die traditionelle indische, kulturelle Sozialpsychologie, so möchte man mutmaßen, konnte ethnische Vielfalt besser tolerieren und mit ihr umgehen, als die zeitgleiche chinesische.

Man müßte also, so drängt sich der Vergleich auf, in der chinesischen Geschichte deutlichere Mechanismen der genetischen Einebnung - sicherlich auch über Genozide und Suizide (ethnisch und verhaltensgenetisch deutlich von der Mehrheitsbevölkerung abweichender Bevölkerungen und Menschen) - beobachten, als in der indischen Geschichte. Weil der ethnische Konformitätsdruck hier zeitweise (also z.B. nach der kulturell offenen Tang-Zeit) wesentlich größer gewesen sein könnte.

Aber auch viele andere gedankliche Ansätze könnten sicherlich an diesem "größten genetischen Experiment, das jemals am Menschen durchgeführt wurde", erprobt werden und auf empirische Gültigkeit hin überprüft werden. Möglicherweise bietet also gerade der Vergleich zwischen Indien und China schon ein ganz gutes gedankliches und datenmäßiges "Experimentierfeld", um Theorien zur Evolution menschlichen altruistischen Verhaltens in Stammesgesellschaften und darüber hinaus auf ihre Robustheit zu testen. Und dabei könnte es dann sinnvoll sein, vor allem auch den letzten Satz der Studie von 2008 zu berücksichtigen:
"Das 'größte Experiment, das jemals durchgeführt wurde' mag tatsächlich eher jenes gewesen sein, das die sozialen und genetischen Strukturen der Stämme hervorgerufen hat, als jenes, das das Kastensystem hervorgebracht hat."
("The 'grandest experiment ever performed' may in fact have been the one which produced the tribal social and genetic structure, rather than the caste system.")
Diese Aussage führt nämlich noch zu einer anderen Frage: Warum glauben Evolutionsforscher, anhand von kontrastreicher, menschlicher (genetischer) Populationsvielfalt mehr lernen zu können als anhand von eher eingeebneter genetischer Populationsvielfalt? Sicherlich weil sie richtigerweise intuitiv davon ausgehen, daß es insgesamt die genetische Vielfalt von Populationen ist, die erklärt werden muß, und daß ein Fall wie China demgegenüber sich dann eher nur als ein "Spezialfall" der Humanevolution erweisen könnte, von dem höchstens im Gegensatz zu und im Vergleich mit anderen Fällen allgemeingültigere Evolutionsgesetze abgeleitet werden könnten.

Aber niemand sollte China und seine geschichtlichen Lebensgesetze unterschätzen. Seine gegenwärtigen explosiven Zuwachsraten führen es wirtschaftlich schon ziemlich bald an seine beiden ostasiatischen "Brüder" (nein, im ostasiatischen Verständnis: "Söhne") heran, nämlich an Japan und Südkorea. Indien bleibt demgegenüber mit seiner viel gepriesenen ethnischen Vielfalt wohl auch weiterhin im weltweiten Vergleich wirtschaftlich weit zurück. Mit einer etwaigen genetischen Vereinheitlichung und Einebnung zwischen den (Sub-)Populationen Chinas könnte also - ebenso wie in Japan und Korea - auch der Gewinn von Entwicklungspotentialen einhergegangen sein, die in dieser Weise heute in Indien nicht so deutlich vorhanden sein mögen.

Es gibt also sicherlich noch viele andere, spannende "genetische Experimente am Menschen", die ähnliche Bedeutung haben, wie jenes Jahrtausende alte in Indien.

- Übrigens hat Jared Diamond in einem "Peeling the Chinese Onion" benannten Nature-Artikel 1998 einmal gemutmaßt, daß die Einheitlichkeit der chinesischen Geographie im Gegensatz zur Vielfalt der europäischen Geographie zu wesentlichen Anteilen für den unterschiedlichen Verlauf der (neuzeitlichen) Geschichte in China und Europa verantwortlich sein könnte. Ob er da wohl berücksichtigt hat, daß dann auch in dem geographisch einheitlicheren Indien (ebenfalls nur wenige Inseln oder Halbinseln) ein mit China vergleichbarer Geschichtsverlauf festgestellt werden müßte? Und weisen die Daten der hier behandelten Studie von 2008 nicht doch noch in eine ganz andere Richtung?

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*) Zum Beispiel in der Studie "Diaspora Peoples" von Kevin MacDonald (enthalten in der ersten Taschenbuch-Ausgabe von "A People That Shall Dwell Alone", 2002), in die sich die Arbeit von Gadgil thematisch gut hineinfügen lassen würde, ist ein Autor Gadgil nirgends erwähnt.

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Literatur:

ResearchBlogging.org1. Gadgil, M.; Malhotra, K.C. (1983): Adaptive significance of the Indian caste system: an ecological perspective. Annals of Human Biology, 10 (5). 465 -477.
2.
Denise R. Carvalho-Silva, & Chris Tyler-Smith (2008). The Grandest Genetic Experiment Ever Performed on Man? –
A Y-Chromosomal Perspective on Genetic Variation in India Int J Hum Genet, 8 (1-2), 21-29

3.
N V Joshi, M Gadgil, & S Patil (1996). Correlates of the desired family size among Indian communities PNAS, 93 (13), 6387-6392