Donnerstag, 15. Januar 2009

Die Pyrenäen als Sonderfall der genetischen Geschichte Europas?

ResearchBlogging.org Wenn es wirklich so sein sollte, daß bis zu 90 % der Gene der Bewohner der Pyrenäen vorneolithischen Ursprungs sind, wofür neue Daten und Argumente in "Annals of Human Genetics" zusammen getragen worden sind (1), dann müßten sich daraus spannende, weiterführende Überlegungen ergeben.

Zunächst das Ergebnis der genannten Studie:
The Y lineages representative of what might have been a pre-Neolithic male genetic composition in Iberia, were those bearing the Palaeolithic mutations M269, including its Mesolithic derived branches R1b1b2c-M153 and R1b1b2d-SRY2627, plus those falling in the I clade defined by the Mesolithic M170. This set of lineages was encountered in 91.1% of Pyrenean men, and such a high value in Iberia is only typically found among Basque populations (it also represented exactly 91.1% of the Basques studied by Alonso et al. (2005). This result suggests that the Pyreneans, as well as the Basques, retained the legacy of the Iberian pre-Neolithic genetic composition.
Es muß ja heute in der Forschung darum gehen, die Erkenntnisse, die man 1. aus der Erforschung des selektionsneutralen Genomabschnitte gewinnt - wie in dieser Studie - mit jenen zu einem sinnvollen einheitlichen Bild zu kombinieren, die wir 2. aus der Erforschung des kodierenden Genoms gewinnen. Die hier genannte Studie beschränkt sich ganz traditionell auf selektionsneutrale Abschnitte des Y-Chromosoms. Aber die genetischen Erkenntnisse müssen außerdem auch zu einem einheitlichen Bild abgeglichen werden mit 3. dem archäologischen Kenntnisstand und zusätzlich zu dem, was wir 4. überhaupt grundsätzlich über a) die Ethnogenese und b) den Kollaps von komplexen Gesellschaften wissen. (Siehe etwa die ---> Bücherrubrik von St. gen. dazu.)

Das Auf und Ab der Bevölkerungen und Gesellschaften in Mitteleuropa

Ein paar Vorausüberlegungen, um den Hintergrund andeutend auszuleuchten: Wir wissen vom übrigen Europa, etwa Mitteleuropa, daß es hier viele Bevökerungsexplosionen gegeben hat. Etwa die der Bandkeramiker (um 5.700 v. Ztr. vom Plattensee aus entlang einer sich schnell in alle Richtungen ausbreitenden kinderreichen Rodungs-"Frontier" schließlich bis an die Kanalküste und an das Schwarze Meer) oder die der osteuropäischen, Indoeuropäisch sprechenden Schnurkeramiker. Oder die jener Glockenbecher-Leute, die von Süddeutschland aus die Bronzezeit nach England (Stonehenge) gebracht haben. Man kann hier also von vielfältigen Überlagerungen ebenso ausgehen wie auch vermutungsweise - vor allem seit der Bronzezeit - von der Verbreitung von Genen durch Sklavenhandel. Erinnert sei an die archäologisch entdeckten Fuß- und Halsfesseln im ostgermanischen Bereich, die dazu passenden Berichte des Tacitus, sowie die dazu ebenfalls passenden Grubenhäuser in der Nähe der dortigen Langhaus-Siedlungen.

Wo Zuwanderungen und Überlagerungen stattfinden, sind als Voraussetzung oder Folge oft auch in größerem Umfang Bevölkerungszusammenbrüche anzunehmen (also jeweils ein Kollaps von komplexen Gesellschaften). Solche werden für die Endzeit der Bandkeramik angenommen - sowohl archäolgisch wie auch inzwischen aufgrund genetischer Daten. Ebenso für andere Zeiten. Etwa die Abwanderungen zumindest von Oberschichten aus dem ostgermanischen (ostelbischen) Bereich während der Völkerwanderung nach 375 n. Ztr. nach Süddeutschland und in den Mittelmeer-Raum. Auch zuvor waren schon viele germanische und keltische Stämme in den Mittelmeer-Raum abgewandert, auch zur Zeit des Seevölkersturmes (um 1200 v. Ztr.) hat es Ansiedlungen im Levanteraum direkt aus dem süddeutschen Raum heraus gegeben.

Um von den Tocharern ganz zu schweigen, die sich - wohl aus dem mitteleuropäischen Raum heraus kommend (absehbar an ihrer Kleidung) - um 2.000 v. Ztr. in Innerasien angesiedelt haben (siehe die dort gefundenen Wüstenmumien) und dort dann nach 600 n. Ztr. in der heute dort lebenden Bevölkerungsgruppe der Uiguren aufgegangen sind.

Wanderungen von kentumsprachigen Rohmilch-Verdauern

Es ist ja auch naheliegend anzunehmen, daß sich das nachneolithisch selektiv vorteilhaft gewordene Erwachsenen-Rohmilch-Verdauungs-Gen über Wanderungen ausgebreitet hat, höchstwahrscheinlich durch bronzezeitliche und eisenzeitliche Wanderungen von Nordeuropa bis nach Nordafrika und dies insbesondere wohl durch die Wanderung indoeuropäischer, kentumsprachiger Völker aus Nordeuropa, da dort die Häufigkeit dieses Gens fast 100 % beträgt, während diese Häufigkeit nach Süden, Osten und Westen hin immer mehr abnimmt.

Wie aber könnte nun ein solches Gen zu hohen Anteilen auch in eine Bevölkerung gelangt sein wie jene der Pyrenäen, die doch offenbar so wenig zuwandernde Populationen genetisch bei sich aufgenommen haben nach der derzeitigen Erforschung der dortigen Y-Chromosome (1)? Dann müßten stärkere autochthone Selektionsvorgänge angenommen werden, die sich natürlich - mit dem Übergang zum Ackerbau und später - nicht nur auf die Verdauungs-Genetik ausgewirkt haben könnten, sondern auch auf alle anderen Bereiche der menschlichen Verhaltens- und Intelligenz-Genetik. Aber solche Fragen diskutiert die hier vorliegende Studie nicht, was einem ziemlich "schmalspurig" erscheinen könnte.

- Und in den Pyrenäen?

Gerade solche etwaig langfristig genetisch autochthonen Bevölkerungen wie jene der Pyrenäen könnten sich ja, falls die in dieser Studie angenommenen Szenarien sich bewahrheiten sollten, besonders dazu eignen, an ihnen "jüngste Selektionsereignisse" im menschlichen Genom detaillierter zu erforschen, weil dann bei diesen Selektionsereignissen nicht angenommen werden muß, daß diese vornehmlich durch Zuwanderungen (also durch Vermischung mit Zuwanderern) ins Genom "hineingespült" worden sind. Aber kann dies auch ganz ausgeschlossen werden, schließlich sind ja doch auch hier 10 % der Y-Chromosomen nachneolithischen Ursprungs (zumindest nach der genannten Studie)?

Solche Fragen lassen einen die hier behandelte Studie (1) noch einmal verschärft anschauen. Und dann wird deutlich, daß hier an entscheidenden Punkten im Argumentationsstrang neue Datierungen von Y-Haplotypen als vorneolithisch vorgeschlagen werden, die bislang als nachneolithisch entstanden datiert worden waren. Die Unsicherheit diesbezüglich drückt sich unter anderem in folgenden Worten aus:
... The dispersion of R1b1b2d could have been driven by the Neolithic farmers entering Iberia, but the young age reported by Hurles et al. for R1b1b2d apparently contradicts this scenario. However, the time to the most-recent common ancestor (TMRCA) of the Pyrenean R1b1b2d lineages was here estimated at 7383 ± 1477 years ago, which is consistent with an early dispersion of R1b1b2d all over the Pyrenees and subsequent dissemination outside the mountain range from the Neolithic era onwards.
Von dieser neu vorgeschlagenen Datierung scheint nun alles abzuhängen. Die Forscher sollten aber doch auch erkären können, wie nachneolithisch noch ein größerer Prozentsatz von Rohmilchverdauungs-Genen in die Population der Pyrenäen hineingelangt sein könnte, wenn die Genome der dortigen Menschen schon seit Beginn des Neolithikums weitgehend autochthon evoluiert sein sollten wie sie hier annehmen. Das scheint einem doch wenig plausibel und manchmal wünscht man sich von Genetikern, daß sie bei ihren Argumentationen auch ein bischen mehr über ihren eigenen Tellerrand hinausschauen. (Natürlich könnte und müßte übrigens auch das mütterlich vererbte mitochondriale Genom in die Betrachtung mit einbezogen werden.)

Literatur:

1. A. M. López-Parra, L. Gusmão, L. Tavares, C. Baeza, A. Amorim, M. S. Mesa, M. J. Prata, E. Arroyo-Pardo (2009). In search of the Pre- and Post-Neolithic Genetic Substrates in Iberia: Evidence from Y-Chromosome in Pyrenean Populations Annals of Human Genetics, 73 (1), 42-53 DOI: 10.1111/j.1469-1809.2008.00478.x

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