Montag, 18. August 2008

"Geschichten erzählen" – Ein Ursprung der Religionen

ResearchBlogging.orgWeibliche Figuren in der Weltliteratur

Die in der Weltliteratur dargestellten Personen spiegeln evolutionär entstandene Grundtendenzen im Verhalten wieder, etwa auf dem Bereich angeborener, psychischer Geschlechtsunterschiede. Dies ist das Ergebnis einer vor drei Jahren von dem amerikanischen Psychologen Jonathan Gottschall veröffentlichten Studie unter dem Titel (übersetzt) "Die Heldin mit den tausend Gesichtern - Universelle Tendenzen in der Charakterisierung von weiblichen Märchen-Figuren". (1)

Auf den ersten Blick ein abseitiges Thema. Warum sollte sich der moderne Mensch noch mit Märchenfiguren beschäftigen? Geht man aber der Frage nach, ob in die Auswahl der weltweiten Volksmärchen dieser Studie auch biblische, buddhistische, konfuzianische oder sokratische "Geschichten" einbeschlossen worden sind - natürlich nicht! -, wird gleich noch ein weiterer Erkenntnishorizont sichtbar.

Was ist der Sinn von "Erzählen"?

Der evolutionäre Weg der innerartlichen Kommunikation um des sozialen Ausgleichs und der sozialen Befriedung willen ging von „sozialer Fellpflege“ bei den Schimpansen zum „Klatsch und Tratsch“ bei den ersten Menschengruppen (siehe Robin Dunbar). Und dieser Weg ging weiter über das Erzählen von strukturierteren, verallgemeinerten Geschichten, schließlich zur vielleicht höchsten Errungenschaft der Menschheit: zu den „Geschichten“, die Wissenschaft und Philosophie „erzählen“. Dabei wurde der Kreis jener, mit denen man „soziale Fellpflege“ schließlich auf höchstem intellektuellem Niveau betreibt, immer größer. Und entsprechend nahm die angeborene Intelligenz in der Evolution zu. (siehe Robin Dunbar)

Paul Hoecker (1854 - 1910) - Großmutter und Enkelin am Kamin (um 1900)

Man kann sich also leicht klar machen, daß die weltweit von Völkern erfundenen Mythen und Märchen eine Vorstufe von menschlicher Religion und Philosophie darstellen, also einen Abschnitt hin auf dem Weg zu den heute ausgebildeten Formen menschlicher Religiosität und ihrer Weitergabe durch "Erzählen". Auch noch die Bibel etwa oder der Buddhismus „erzählen“ über weite Strecken einfach nur „Geschichten“.

(Nebenbemerkung: Ein gutes Kunstwerk ist daran erkennbar, daß die „Absicht“ des Künstlers nicht so leicht und unmittelbar erkennbar wird. Bei den Geschichten der Bibel wird die „Absicht“, die „Moral von der Geschicht’“ fast immer gleich mitgeliefert: „Ich aber sage euch …!“ Der moderne Mensch zumindest erkennt die Absicht und ist verstimmt. Das Schöne an den Märchen und Mythen der Völker ist oft, daß sie nicht dauernd nur mit hoch gehobenem Zeigefinger daher kommen. Daß sie der Phantasie und dem menschlichen Handeln viel größere Spielräume lassen, dennoch aber bestimmte Verhaltensmuster "nahelegen", als vorbildlich darstellen.)

Bevor das antik-griechische wissenschaftliche Denken und Erzählen ausgebildet wurde, erzählte man sich die traditionellen Götter- und Heldengeschichten, etwa dargestellt in der "Ilias" oder bei den heidnischen Völkern Mittel- und Nordeuropas in "Götter- und Heldensagen":

„Urzeiten war’s, als Adler schrie’n
und heilige Wasser von Himmelshöhen rannen …“
Religionswissenschaft ein "Spezialfall" der Literaturwissenschaft

Jedenfalls: Nimmt man alle diese Dinge zusammen, würde sich die Evolutionäre Religionswissenschaft über weite Strecken nur als ein „Spezialfall“ der Evolutionären Literaturwissenschaft erweisen und diese wiederum über weite Strecken als ein „Spezialfall“ der historischen Volkskunde. Religionsgemeinschaften wären dann einfach Gemeinschaften von Menschen, in denen man sich dieselben Geschichten - vor allem auch mit philosophischer oder religiöser, schließlich wissenschaftlicher Bedeutung - erzählt. Und was machen Blogger anderes als Geschichten erzählen? - Willkommen im Club!

Geschichten erzählt man sich, um Identität zu formen, um sich in der Welt zu recht zu finden, um die Welt und das eigene Leben zu strukturieren. In Geschichten, "Szenarien" versetzen wir uns in andere Personen, probieren wir Handlungsalternativen aus, ohne uns selbst konkret für eine bestimmte Handlung entscheiden zu müssen. Diese Möglichkeit zur "inneren Bühne" besitzen außer dem Menschen nur die intelligentesten Tiere in Ansätzen, etwa die Schimpansen. Aber auch die Schimpansen können kaum differenzierter über ihre jeweiligen "inneren Bühnen" mit anderen Schimpansen kommunizieren. Das ist es ja, was einem beim Umgang mit Tieren oft so bedauerlich erscheint.

(Ein weiterer Differenzierungsschritt bezüglich „innerer Bühne“ ist die heute viel diskutierte „Theory of Mind“, also daß man sich in die „innere Bühne“ eines anderen versetzt und Hypothesen darüber aufstellt, was dort gegenwärtig „passiert“. Das kann auch in einem Rückkoppelungsprozeß stattfinden nach der Art: „Er denkt, daß ich denke, daß er denkt …“ entsprechend des fortgeschrittenen Schachspielers: „Wenn ich so ziehe, zieht er so, ziehe ich so, aber er wird auch sehen, daß ich so ziehen kann, also zieht er so …“)

Kommunikation über die "innere Bühne"

Hat nun auch die moderne Gesellschaft noch ihre "Narrationen", ihre "Erzählungen" zur Identitäts-Bestimmung und zur Übung und Steigerung intellektueller Kapazitäten? Gewiß. Aber was „erzählen“ moderne Gesellschaften ihrer Jugend, um sie in die heutige Welt hineinzuführen, um ihnen die Strukturierung des Lebens zu erleichtern? ... An dieser Stelle genug der Abschweifung!

Zurück zu Gottschall. Weibliche Protagonisten in der Weltliteratur untersucht er nicht mehr ausgehend von der Freudschen Psychoanalyse, sondern ausgehend von der modernen Evolutionstheorie:

This research seeks universal patterns in dimensions of female protagonist characterization where evolutionary theory and research suggests one should find them. The expectations of this study were as follows. On the basis of kin selection theory (Hamilton, 1964) it was expected that female protagonists would devote substantial effort to assisting their kin, especially their close kin, relative to non-kin and distant kin. On the basis of research into human mate preferences inspired by sexual selection theory, it was predicted that female characters, relative to their male counterparts, would place greater emphasis on a potential mate's wealth, status, and kindness (a potential signaller of commitment) than on his physical attractiveness (Buss, 1989).
On the flip side, given the heavy emphasis males place on the attractiveness of potential mates in world cultures, it was expected that there would be markedly greater emphasis on the physical attractiveness of female characters relative to male characters. On the basis of Darwin-Trivers sexual selection theory (Darwin, 1871; Trivers, 1972), it was predicted that female protagonists would be identified as less "active," less "courageous," and less likely to be defined as "physically heroic" than their male counterparts. This is because sexual selection theory predicts that, in most sexually reproducing animals, males will be more prone to risk taking behavior in the competition for mates; males' higher likelihood both of reproducing prolifically and dying without issue gives them positive and negative incentives to compete intensely and riskily for mates, and for the social status and resources required to attract and retain them (for reviews of sexual selection literature see Anderson, 1994; Miller, 1999).
Finally, it was expected that one side effect of the higher activity, courage, and heroism ratings of males characters would be an abundance of male main characters relative to female main characters. It was assumed that active characters (as well as the courageous and physically heroic) would be more compelling than passive characters, and thus more likely to play central roles in narratives. While some of these expectations may seem obvious on the basis of commonsense, they are at odds with the dominant humanities models, which predict strong inter-cultural variability given the basically arbitrary nature of human social and gender arrangements.

Zusammengefaßt: Aus Sicht der Evolutionstheorie "sollten" weibliche Protagonisten in der Weltliteratur besonders ihre Verwandten unterstützten, bei der Geschlechtspartnerwahl stärker auf Wohlstand, sozialen Status und Mitmenschlichkeit achten denn auf körperliche Attraktivität, während für die männlichen Protagonisten eine deutlich höhere Beachtung der weiblichen körperlichen Attraktivität eine Rolle spielen "sollte". Die weiblichen Protagonisten sollten weniger "aktiv", weniger "mutig" und weniger "physisch heroisch" sein, während das stärker Risiko-in-Kauf-nehmende Verhalten der männlichen Protagonisten mit ihrer evoluierten Partnerwahlstrategie zusammen passen sollte.

Paul Hoecker (1854 - 1910) - Großmutter und Enkelin (um 1900)

Vielleicht wenig erstaunlich, daß sich all diese Erwartungen aus der Sicht der Evolutionstheorie in der Studie bestätigten. Da aber auch konkurrierende Literaturtheorien vorliegen, die solche Universalien nicht annehmen, war der Beweis doch zunächst einmal zu erbringen, daß sich Evolutionstheorie erfolgreich auf Weltliteratur anwenden läßt.

Evolutionäre Literaturwissenschaft

Nachdem solche Nachweise auf dem Gebiet der Geschlechtsunterschiede erbracht worden sind, kann man weiterschreiten in der evolutionspsychologischen Erforschung der Weltliteratur und auch die engeren religiösen Bedeutungen von "Narrationen" in den Blick nehmen, die konsensbildenden, Kooperation und gemeinsames, kooperierendes Verhalten verstärkenden Funktionen derselben. Die „Einstimmung auf das Leben“, die durch diese geschieht.

Man wird dann auch schrittweise genauer typische Unterschiede zwischen den Volksmythologien, gesellschaftlichen Mythologien aus evolutionärer Sicht erklären können, sowohl aufgrund geographischer wie historischer wie biologischer Umstände und Gegebenheiten. Etwa könnten sie erklärt werden mit unterschiedlichem Pathogen-Befall von Gesellschaften (siehe frühere Beiträge) oder auch mit dem unterschiedlichen Vorwiegen von ADHS-Anlagen in einer Gesellschaft und anderem mehr.

Vielleicht können dann auf diese Weise auch Unterschiede etwa zwischen dem monotheistischen erzählenden "Winken mit dem moralischen Zaunpfahl" und den fabulierenden, polytheistischen Geschichten der antiken Griechen und sonstigen heidnischen Völker evolutionstheoretisch in den Blick genommen werden.
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Gottschall, J. (2005). The heroine with a thousand faces: Universal trends in the characterization of female folk tale protagonists. Evolutionary Psychology, 319, 85-103

1. Jonathan Gottschall: The Heroine with a Thousand Faces: Universal Trends in the Characterization of Female Folk Tale Protagonists. Evolutionary Psychology, human-nature.com/ep – 2005. 3: 85-103 (pdf.)

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