Mittwoch, 9. Juli 2008

"Brachiales", "intolerantes", "weltanschauliches Geschäft"?

Bei Wissenschaftsblogger Kamenin ("Begrenzte Wissenschaft") weist Wissenschaftsblogger Ulrich Berger ("Kritisch gedacht") auf einen spannenden neuen Artikel in der "Süddeutschen Zeitung" hin, der dort unter dem Titel "Angriff auf den 'Verbalwissenschaftler'" erschienen ist. (Schön, diese - gar nicht so "stille" - "Post", bzw. "Nachrichten-Leitung" in der Wissenschaftsblogger-Gemeinde ...)

Dieser Artikel in der "Süddeutschen" (siehe auch ORF) macht auf eine möglicherweise neu sich entwickelnde öffentliche Kontroverse aufmerksam, die für "Studium generale" natürlich von Bedeutung ist. In ihrem Mittelpunkt steht der Kasseler Evolutionsbiologe Ulrich Kutschera, ein treuer Streiter an der Seite von Richard Dawkins. Er hat sich einen Namen gemacht durch die Widerlegung all des vielen kreationistischen Unsinns, mit dem derzeit immer weitere Teile der Öffentlichkeit - und nicht nur in den USA - verwirrt werden.

Ulrich Kutschera ist nun offenbar durch seine Auseinandersetzungen dazu herausgefordert worden, einen Schritt weiter zu gehen. Er wird - oh Gott, oh Gott! - "imperialistisch". Er stellt den Satz zur Diskussion:

"Nichts in den Geisteswissenschaften ergibt einen Sinn außer im Lichte der Biologie."

So könnte man allerdings auch das Credo des Schreibers dieser Zeilen seit vielen Jahren und aller konsequent natrualistisch Denkenden nennen. - Nun ist es ja spannend, ob oder wie noch "Ideologen" aller politischer Windrichtungen ihr Weltbild aufrecht erhalten können, wenn sich ein solches Denken einmal allgemeiner wird durchgesetzt haben.

Nein, das kann man dem lieben Herrn Kutschera deshalb offenbar doch nicht so ganz durchgehen lassen, daß jetzt plötzlich alles mit dem Maßstab der Naturwissenschaft gemessen werden soll. Da wird er dann plötzlich sogar mit einem "Kommunistenjäger" aus der Zeit des Kalten Krieges vergleichen. (Das Schlagwort vom "McCharty aus Kassel" scheint vor allem durch einen Benno Kirsch in Umlauf gebracht worden zu sein.)

Denn wenn sich ein solches Weltbild ausbreiten sollte, dann bleibt ja der ideologischen Willkür in all dem politischen Hin und Her des Tagesgeschehens gar nicht mehr so viel Spielraum für Manipulationsmöglichkeiten und Kulissenschiebereien wie das Jahrzehnte lang so schön genutzt wurde. Wie konnte man da doch so schön das Denken der Menschen manipulieren mit wissenschaftsfernem, ideologie-geleitetem Denken. Wie immer man es gerade haben wollte. Wer am lautesten und "seriösesten" redete, wer Kriege gewann, wer die meisten und größten Bomben besaß, der hatte auch - - - "recht".

Und all diese "schönen" Zeiten sollen nun vorbei sein?

"Brachiales", "intolerantes" "weltanschauliches Geschäft"?

Da wird der Kampf des Herrn Kutschera, dem man bislang über den Wissenschaftsgraben hinweg immer so unberührt-wohlgefällig zugenickt hatte, plötzlich "brachial". "Intolerant" gar. Da betreibt er jetzt plötzlich ein - "weltanschauliches Geschäft". Vorher wohl nicht? Als er abgesteckte Reviergrenzen offenbar sorgsamer vermied als neuerdings?

Und seine Kritiker betreiben ein solches "weltanschauliches Geschäft" natürlich nicht. Und schon gar nicht "brachial", "intolerant" oder wie "Kommunistenjäger". ... Kutschera also:
Er sieht sich als Streiter für eine ideologiefreie Naturwissenschaft und muss sich doch immer wieder Anwürfen erwehren, er betreibe ein weltanschauliches Geschäft, ja er wolle recht intolerant zum Materialismus bekehren.

Da Kutschera in seiner Offensive gegen den Kreationismus zuweilen übers Ziel hinausschießt, wurde er unlängst von einem Historiker in einer linken Berliner Wochenzeitung als "McCarthy aus Kassel" bezeichnet. Darauf warf sich der Humanistische Pressedienst für Kutschera in die Bresche und verwies, zur Ehrenrettung gewissermaßen, auf dessen Attacke wider die Geisteswissenschaften. Die apologetische Übung dürfte aber ihren Zweck verfehlen.

Der Artikel des Humanistischen Pressedienstes ist verfügbar. Und weiter:

An der fraglichen Stelle nämlich, in der jüngsten Ausgabe der Fachzeitschrift Laborjournal, rückt Kutschera die gesamte Geisteswissenschaft in die Nähe des Privatvergnügens. Er nennt sie "Verbalwissenschaft" und scheidet sie scharf von der "Realwissenschaft".

Diese erforsche "real existierende Dinge, vom subatomaren Teilchen bis hin zur Biodiversität von Regionen", während der Verbalwissenschaftler, wie es der Name schon sagt, im Reich bloßer Worte hause und deshalb in einem hermetischen Zirkel gefangen sei: "Er beschäftigt sich bevorzugt damit, was andere über reale Sachverhalte gedacht und geschrieben haben, gegeneinander abzuwägen, neu auszulegen und zu kommentieren."

Dem Resultat solch unwirklicher Wortakrobatik, einer "meist in Buchform verbreiteten Tertiärliteratur", komme "bei weitem nicht dieselbe Bedeutung" zu wie den Erkenntnissen der Naturwissenschaftler - jener "Personen, die unter Einsatz enormer persönlicher und technischer Aufwendungen reale Phänomene der Natur erforschen."

"Die Witzigkeit kennt keine Grenzen"

Man weiß, Sekundärliteratur ist kommentierende Literatur zu Primärliteratur, also etwa ein Kommentar zu Kants "Kritik der reinen Vernunft". Aber gewiß gibt es in diesem Gebiet inzwischen noch viele Steigerungen von "Tertiärliteratur", also kommentierende Literatur zu kommentierender Literatur zu kommentierender Literatur ... Das ist ungefähr so, wie heute in der allbekannten "gehobenen" Fernseh-Unterhaltung zumeist nur noch Witze gemacht werden über Witze, die andere über Witze anderer gemacht haben ... Da kennt dann die "Witzigkeit keine Grenzen" mehr. (Harpe Kerkeling und Heinz Schenk, man weiß ...)

Die Biologie soll aufsteigen zur Königsdisziplin, deren hartem Urteil sich alles Geistige zu fügen habe.

Die Biologie als "Königsdisziplin"?

Welch schlimmer Frevel, eine solche Forderung aufzustellen.

Unterstützung erhält Kutschera von dem Chemiker Peter Atkins. Für den 69-jährigen Oxforder Gelehrten ist die Philosophie nichts anderes als ein "primitiverer Vorgänger der Wissenschaft", unter welcher auch Atkins ausschließlich die experimentierende Naturwissenschaft verstanden wissen will. Atkins wie Kutschera arbeiten einem "Neuen Humanismus" zu. Dessen Ziel ist die "Einheit des Wissens", ein streng naturalistischer Monismus, an dem sich die Pythagoräer ebenso schon versuchten wie Descartes, Laplace, Haeckel, Dawkins.
Atkins hat das schöne kleine Buch "Schöpfung ohne Schöpfer" geschrieben. Aber auch ganz hervorragende, dickleibige Chemie-Lehrbücher. Alexander Kissler von der "Süddeutschen" steht all dem sketpisch gegenüber.

In den bislang 49 recht gemischten Leserkommentaren steht das eine oder andere Interessante, so zum Beispiel eine schöne Definition zum Unterschied von Geistes- und Naturwissenschaft, auch mal wieder ein bischen "witzich" - womit an dieser Stelle abgeschlossen werden soll:
Sie kennen die Gemeinsamkeit zwischen einem Geisteswissenschaftler und einem Naturwissenschaftler? Beide brauchen theoretisch nur Papier und Bleistift um arbeiten zu können. Und kennen Sie den kleinen Unterschied? Der Naturwissenschaftler braucht auch einen Papierkorb.

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