Mittwoch, 18. Juni 2008

Menschliche Gehirngene werden besonders häufig monoallelisch abgelesen - aber warum?

Ich habe vor einigen Tagen versucht, einen Beitrag zu einem neuen Forschungsartikel über "krankheitsrelevante SNP's im menschlichen Genom" (1) zu schreiben. Diese SNP's ("Single Nucleotid Polymorphism") unterscheiden sich zum Teil sehr auffällig zwischen den verschiedenen Populationen auf dieser Erde, was dazu führt, daß eine Medizin, in der Menschen europäischer Herkunft im Vordergrund stehen, zwangsläufig Menschen anderer Herkunft benachteiligt und diskriminiert.

Aber als ich mir über die Einzelheiten und logische Vorgehensweise der diesbezüglichen Studie (1) selbst zunächst klar werden wollte - in dem Sinne: was machen die da eigentlich? und wo könnten Haken der Interpretation der Forschungsergebnisse liegen - bin ich zu kläglich gescheitert, als daß ich dieses Scheitern publik machen wollte. (Vielleicht kann das ja ein anderer besser.)

Aber ein neuer, sehr schöner Artikel von Ulrich Bahnsen in der "Zeit" baut mein Selbstvertrauen wieder etwas auf: Offenbar blicken die Humangenetiker selbst immer weniger durch. Craig Venter wird beispielsweise mit dem schönen, entwaffnend offenen Satz zitiert: "Im Rückblick waren unsere damaligen Annahmen über die Funktionsweise des Genoms dermaßen naiv, dass es fast schon peinlich ist." Er spricht von Annahmen, die nur wenige Jahre zurückliegen.

Aber statt nur nur zu jubeln darüber, wie verwirrend alles geworden ist in der Humangenetik, zitiere ich hier lieber nur eine Stelle, die aus der derzeitigen Verwirrung heraus - "Wir hatten stundenlange Sitzungen. Jeder schrie jeden an" - Perspektiven auf neuen Ufer gibt, bei denen die genetische Forschung in der nächsten Zeit landen könnte.

Vor allem finde ich spannend, daß "autosomale monoallelische Expression" (was das ist, wird gleich näher erläutert) offenbar viel mit der Gehirnevolution beim Menschen zu tun haben könnte, was ein Harvard-Genetiker namens Andrew Chess vermutet.

(...) Das Wechselspiel im Menschengenom vermag nicht nur die individuellen Eigenheiten des Einzelnen zu erklären, es produziert auch das genetische Sortiment, aus dem die Evolution den Menschen weiter formt. Das macht einen weiteren verstörenden Befund verständlich: Die Spezies Homo sapiens unterliegt offenbar einer Turboevolution. Hunderte Bereiche im Erbgut haben sich weit schneller gewandelt als bei anderen Primaten. Neue Untersuchungen kommen sogar zu dem Schluss, dass die Zivilisation seit Beginn der Jungsteinzeit die menschliche Evolution um das 100-Fache beschleunigt haben muss.

Das Magazin Science kürte die Entdeckung dieser genetischen Variationen zum Durchbruch des Jahrs 2007.

(...) Bei bis zu zehn Prozent aller Erbanlagen – und vielleicht weit mehr – ist entweder nur die mütterliche oder die väterliche Variante aktiv. Dieses Muster, im Fachjargon »autosomale monoallelische Expression« genannt, wird bereits im Embryo festgelegt. Und dort trifft jede Zelle ihre eigene Entscheidung. »Wir glauben, dass dies geschieht, wenn sich der Embryo einnistet«, sagt der Genetiker Andrew Chess von der Harvard University. Die Folge: Der erwachsene Organismus gleicht einem Flickenteppich von Zellverbänden, deren genetische Netzwerke unterschiedlich gestrickt sind.

Ob einzelne Erbinformationen in diesen Genkaskaden von Vater oder Mutter stammen, hat entgegen der bisherigen Einschätzung drastische Auswirkungen. Ihr Informationsgehalt kann feine Unterschiede aufweisen, die aber in den hochkomplexen Netzen, die menschliche Eigenschaften steuern, profunde Konsequenzen haben. Aus dem Harvard-Labor von Andrew Chess stammt ein weiterer faszinierender Befund: Von monoallelischer Expression sind besonders häufig Gene betroffen, die im Verlauf der Menschwerdung einer beschleunigten Evolution unterlagen, und solche mit wichtiger Funktion im zentralen Nervensystem. Was das für die Arbeitsweise des Gehirns und die Konstruktion der Psyche bedeutet, ist derzeit nicht einmal im Ansatz abzuschätzen.

Aber was dann weiter geschrieben wird, glaube ich - ein wenig - besser zu wissen:

(...) Es sei eine Tatsache, dass eineiige Zwillinge genetisch nicht identisch sind, sagt Chess, »das ist ein wirklich aufregendes Resultat«. Nicht nur im ausschließlich mütterlichen oder väterlichen Aktivitätsmuster ihrer Gene, auch in ihrem CNV-Muster finden sich klare Differenzen. »Wir haben uns immer gefragt, wieso es Unterschiede zwischen eineiigen Zwillingen gibt, zum Beispiel bei der Anfälligkeit für komplexe Erkrankungen«, sagt Chess. »Unsere Entdeckung ist eine Erklärung.«

Das natürlich einerseits. Aber daß andererseits die jahrzehntelangen Zwillingsforschungen durch diese neuen Erkenntnisse obsolet geworden sein sollen, kann ich mir nicht vorstellen. Vielmehr ist für mich die Tatsache, daß eineiige Zwillinge ihre starke Einheitlichkeit im Phänotyp TROTZ des "Durchschüttelns" des Genoms beim Übergang von einer Generation auf die andere und danach und TROTZ individuell sehr unterschiedlicher CNV-Muster aufweisen, ein Hinweis darauf, daß man dieses "Durchschütteln des Genoms" auch nicht überbewerten darf.

Es wird wohl so sein, daß sich im Genom auch viel ändern kann, ohne daß sich das auf den Phänotyp auswirken muß. Wenn ein Gen an einer anderen Stelle gelandet ist, liest es der Körper eben dort ab, wenn er es braucht - wo sollte da für ihn das Problem liegen? Und dann haben eben eineiige Zwillinge einen unterschiedlichen Genotyp aber dennoch einen ähnlichen Phänotyp. Na, wir werden sehen, wie die Forschung weitergeht.
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1. Sean Myles et al: Worldwide population differentiation at disease-associated SNPs (4.6 08)

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