Donnerstag, 26. Juni 2008

Muttersprache und Altruismus

Für das hier auf dem Blog langfristig bearbeitete Thema "Altruismus in menschlichen Gruppen" stellt sich muttersprachliche Prägung immer deutlicher als ein wichtiges Phänomen heraus und als ein wichtiger Faktor bei der Modellierung des altruistischen Verhaltens. Darauf muß an anderer Stelle noch einmal detaillierter zurückgekommen werden.

Jedenfalls paßt ein neuer Bericht im "New Scientist" hervorragend zu einer solchen Berücksichtigung der muttersprachlichen Prägung. (Hier der Originalartikel.)
How switching language can change your personality

Bicultural people may unconsciously change their personality when they switch languages, according to a US study on bilingual Hispanic women.

It found that women who were actively involved in both English and Spanish speaking cultures interpreted the same events differently, depending on which language they were using at the time.

It is known that people in general can switch between different ways of interpreting events and feelings – a phenomenon known as frame shifting. But the researchers say their work shows that bilingual people that are active in two different cultures do it more readily, and that language is the trigger.

One part of the study got the volunteers to watch TV advertisements showing women in different scenarios. The participants initially saw the ads in one language – English or Spanish – and then six months later in the other.

Researchers David Luna from Baruch College, New York, US, and Torsten Ringberg and Laura Peracchio from the University of Wisconsin-Milwaukee, US, found that women classified themselves and others as more assertive (anspruchsvoll, anmaßend) when they spoke Spanish than when they spoke English.

"In the Spanish-language sessions, informants perceived females as more self-sufficient and extroverted," they say.

For example, one person saw the main character in the Spanish version of a commercial as a risk-taking, independent woman, but as hopeless, lonely, and confused in the English version.

Es ist natürlich klar, daß ich mich jeweils anders altruistisch verhalte, daß ich auf andere Weise kooperiere, Vertrauen anderen Menschen entgegenbringe, je nach dem, wie ich die Welt erlebe. Das heißt: Muttersprachliche Prägung wirkt - ganz unabhängig von den Genen - hin auf eine Vereinheitlichung der sozialen Wahrnehmung und des Sozialverhaltens all derer, die diese Muttersprache sprechen. Im Grunde ist das eine Banalität. Aber ich glaube, die Altruismus-Forscher haben solche Dinge bislang noch viel zu wenig berücksichtigt bei ihren Modellen zur Evolution des menschlichen Altruismus.

Ich halte es für sehr plausibel, daß gerade von frühem Lebensalter an zweisprachig aufgezogene und immer noch zweisprachig und bikulturell lebende Menschen diese Unterschiede besonders intensiv erleben.

Dazu gibt es auch schöne Leser(innen)kommentare. Nela schreibt:
If you only speak the languages but do not belong to the culture is not the same. I studied Germane and Latin in school but do not "feel" the culture. Being a part of two cultures (growing up in one, and living in the other) makes the difference, not just speaking the language. Although I believe it does not happen to all bi-cultural individuals, it surely happens to many if not most. I wrote more about that in comments, you may read it if interested.
Und ein anderer (Anonymer) sagt ganz genauso:
I know that if the same exact things were said by an American versus an Asian, it would sometimes indicate totally different things to me. This study just shows that people look for the meaning behind the message.
Und Kommentatorin Corazon M. Redolme sagt:
Ok, what about women who grew up in 2 languages, mother tongue and english simultaneously.We learned English as childen but the mother tongue has the advantage of being spoken more frequently. And our mother tongue is made up of Spanish,English and a combination of Asian languages in the region. Anyway, all in all I feel more empowered when speaking in mother tongue although i speak english just as fluent.maybe because due to the standing of women in cultures with strong spanish influence, in catholicism, women are honored because of Mary the mother of Jesus.
Ein langes – aber auch spannendes – Thema.

Samstag, 21. Juni 2008

"Evolution spielt eine Rolle!" - Auch in der Schlaf-Forschung

Indem man den Artenstammbaum in Bezug auf ganz scharf umrissene, spezifische Merkmale vergleichend betrachtet, kommt man auf immer neue, spannende Ergebnisse. In früheren Beiträgen haben wir auf solche Studien in Bezug auf das Merkmal monogame Lebensweise hingewiesen. Nun berichtet der "New Scientist", daß auch die Schlaf-Forschung ganz erheblich von solchen evolutinären, stammbaum-vergleichenden Studien profitiert. Um so größer das Gehirngewicht (abgeglichen nach Körpergröße), um so mehr braucht die jeweilige Tierart den sogenannten REM-Schlaf. Das heißt, um so intelligenter, um so mehr REM-Schlaf ist notwendig. Ich vermute fast, daß man diesen Zusammenhang bald auch entdecken wird beim Vergleich verschiedener Menschen untereinander.

Allerdings sind bei diesem Zusammenhang - wie so oft - auch noch andere Rahmenbedingungen zu berücksichtigen. Für die Länge des Nicht-REM-Schlafes z.B. sind eher rein körper-physiologische Umstände verantwortlich, etwa, ob es sich um einen schnellen oder langsamen Verstoffwechsler handelt.

Diesen Monat will Forscher John Lesku vom MGI Starnberg neue Forschungsergebnisse dazu veröffentlichen, wie der "New Scientist" schreibt ...
... as a "call to arms" for the field. "It's to emphasise the necessity for these kinds of research," he told New Scientist. "Evolution does matter."
Ergänzung 26.6.: Es ist schon verrückt, fünf Tage nachdem dieser Beitrag geschrieben wurde, gibt es schon wieder Neues zu diesem - doch auf den ersten Blick eher abseitigen - Thema: Jüngste Selektionsereignisse auf einem menschlichen Gen, das den Schlaf-Wach-Rhythmus steuert. Irgendetwas haben die Nichtafrikaner da anders weiterevoluiert als das, was die Afrikaner da evoluiert haben. (über Dienekes, Originalartikel) - Tja, und wenn's nun ebenfalls etwas mit Intelligenz zu tun hätte? ... Ach, und "Agnostic" bei "Gene Expression" hat noch eine Fülle weiterer Daten und Gedanken ... Und das ist so ein schöner Artikel.
Consider it part of the graduate student with a PC trend in studying human evolution. You heard it here first,
schreibt er am Schluß. Und schon einleitend das, was auch hier schon oft betont wurde, nämlich daß auf der OMIM-Datenbank derzeit eine Fülle von unausgewertetem Stoff bereit liegt, der ausgewertet werden kann und muß:
Each week I'll find some area of the human genome that shows signs of recent selection, see what phenotypes the gene affects, and although I'll likely provide the most convincing story, readers can conjecture to their heart's content about what might have driven selection.
Ob ich nun seiner These zur weltweit unterschiedlichen Evolution des CLOCK-Gens folgen soll, weiß ich nicht, obwohl er Daten von Richard Lynn heranzieht, stellt er es nicht in Zusamenhang mit der Evolution von intelligenz, sondern von extro- und introvertiertem Verhalten, sowie von risikoscheuem und risikovermeidendem, sowie ADHS-Verhalten. Interessant das alles allemal!
Die nächsten Jahre werden noch viel bringen.

Donnerstag, 19. Juni 2008

Erbliche Sechszehigkeit und die Bevölkerungsgeschichte des Vorderen Orients

Ein kleines Beispiel zu den vielfältigen Erkenntnispotentialen der modernen Humangenetik

In dem Buch „Sie bauten die ersten Tempel“ (1) über das älteste Kultheiligtum der Menschheit auf dem Göbekli Tepe in der Südtürkei (10.000 Jahre alt) (2) erwähnt der Ausgräber Klaus Schmidt Hinweise auf Polydaktylie, auf erbliche Sechszehigkeit in Ain Ghazal in Jordanien, der frühneolithischen „Schwesterstadt“ von Jericho, die von dem deutsch-amerikanischen Archäologen-Ehepaar Rollefson ausgegraben wird (1, S. 40). Eine Ausstellung der eindrucksvollen, dort vorgefundenen Ahnenfiguren - unter anderem auch der „plastered skulls“ (übermodellierte menschliche Schädel) - machte im Sommer 2005 in Bonn auf diese Forschungen aufmerksam (3).

Abb.: Beispiel für Polydaktylie

Da Vielfingrigkeit und Vielzehigkeit erblich sind (4), wird es schon aufgrund eines solchen ausgefallenen Erbmerkmals möglich zu erforschen, inwieweit es im Vorderen Orient (human-)biologische Kontinuität seit dem Frühneolithkum gibt, bzw. welcher Art diese humanbiologische Kontinuität sein könnte. Beim derzeitigen Forschungsstand (5, 6) darf man aber nicht mehr erwarten, daß es sich um besonders „einfach gestrickte“ biologische Kontinuität handelt. In den letzten Jahren gab es erste genetische Hinweise auf ein weitgehend vollständiges Aussterben des ersten Ackerbauern-Volkes Mitteleuropas, der Bandkeramiker, sowie auch des Volkes der Etrusker - oder zumindest seiner Oberschicht.

/Ergänzung 8.1.2018: Die Jahre seit 2015 haben einen Fülle von Neuerkenntnissen aus der Ancient-DNA-Forschung gebracht, über die hier auf dem Blog auch im Herbst 2017 in mehreren Aufsätzen berichtet worden ist. Nach diesen ist der vorliegende Artikel sehr vorausschauend gewesen: Tatsächlich liegt im Vorderen Orient seit dem Natufium und Frühneolithikum genetische Kontinuität bis heute vor, während für Europa ganz andere Verhältnisse zu charakterisieren sind, die sich unter anderem darin wiederspiegeln, daß die Bandkeramiker dort heute ausgestorben sind. In Europa gibt es eine dem Vorderen Orient vergleichbare genetische Kontinuität erst seit dem Spätneolithikum, seit der Zuwanderung der Indogermanen von der Mittleren Wolga aus. - Der vorliegende Aufsatz war also überraschend "gut" in der Vorhersage von Erkenntnissen über die populationsgenetische Kontinutität im Vorderen Orient, die seit 2015 abgesichert sind. Aber das soll nicht heißen, daß dieser Blog nicht fähig zum Irrtum wäre. Mit der Anerkennung der Tatsache, daß die ersten europäischen Bauern auch genetisch mediterraner Herkunft waren (neolithisch-anatolischer), hat er sich über mehrere Jahre sehr schwer getan. Aber auch dieser Umstand ist heute abgesichert./ 

Diese beiden Hinweise und auch viele weitere zeigen auf, daß es in der Menschheitsgeschichte immer wieder zu populationsgenetischen „Flaschenhals-Ereignissen“ gekommen ist. Ein bevölkerungsbiologisches Flaschenhals-Ereignis bedeutet einen weiträumigen, starken Rückgang der Ursprungs-Bevölkerung bei Zuwanderung neuer Bevölkerungen aus anderen Bereichen mit nachfolgendem erneuten Bevölkerungswachstum von den durch diese Prozesse „neu selektierten“ Bevölkerungsgruppen.

Die Bedeutung von bevölkerungsbiologischen „Flaschenhals-Ereignissen“

Die Forschung erkennt derzeit immer deutlicher, daß solche bevölkerungsbiologischen „Flaschenhals-Ereignisse“ und die mit ihnen einhergehenden „Gründerpopulationen“ (das heißt populationsgenetisch „effektive Bevölkerungsgrößen“ von relativ kleinem Umfang einer jeweiligen Übergangsepoche) großen Einfluß auf die kulturelle und biologische Prägung künftiger Geschichtsepochen, also ganzer Jahrtausende haben (6). Es werden diese bevölkerungsbiologischen Vorgänge auch unter dem Begriff der „Ethnogenese“ behandelt, das bezeichnet die Neuentstehung von Völkern.

Von den Genetikern wird angenommen, daß das heutige 10 Millionen Menschen umfassende aschkenasische Judentum (das ist das traditionell deutschsprachige, jiddisch-sprachige Judentum) zur Hälfte von nur wenigen Frauen abstammt, die im Frühmittelalter (parallel zur Ethnogenese des deutschen Volkes) in süddeutschen Rheinstädten gelebt haben (7, 5) (siehe auch diverse frühere Beiträge hier auf dem Blog). Vor dem Frühmittelalter gab es ein aschkenasisches Judentum gar nicht, weder biologisch noch kulturell, genauso wenig wie es vor dem Frühmittelalter ein deutsches Volk gab.
Beim aschkenasischen Judentum handelt es sich also um eine Abspaltung vom sephardischen (romanischsprachigen und arabischen) Judentum, das während des Mittelalters seine kulturelle und religiöse Dominanz innerhalb des weltweiten Gesamtjudentums an das aschkenasische Judentum abtrat ähnlich wie überhaupt der südeuropäische Raum seine kulturelle und wirtschaftliche Dominanz während des Mittelalters und der Neuzeit schrittweise an den mittel- und nordwesteuropäischen Raum abgetreten hat.

Auch das aschkenasische Judentum stammt, so weisen alle genetischen Studien immer wieder aus, aus dem Vorderen Orient. Umstritten ist noch, ob die vielen blonden, aschkenasischen Juden nicht doch von Einmischungen einheimischer mitteleuropäischer Bevölkerung abstammen könnten. Auch sonst findet man viele Erbmerkmale in auffallend ähnlichen Häufigkeiten bei aschkenasischen Juden und Mitteleuropäern vor. - Es würde sich also in jedem Fall bei solchen und anderen Flaschenhals-Ereignissen jeweils um bevölkerungsbiologische, bewußtere oder unbewußtere „Auswahl“-Ereignisse handeln, die zwar z.T. die wesentlichsten psychologischen Erbmerkmale eines Volkes bis heute mögen erhalten haben (also vor allem auch religionspyschologischer, mentalitätspsychologischer Art), die aber doch auch viele stärkere Veränderungen im „Gen-Pool“ ermöglicht haben können, aufgrund deren ja Neuanpassungen an neue, äußere, geschichtliche Bedingungen in der Evolution immer stattfinden. Dies wird aller Wahrscheinlichkeit nach auch für die Intelligenz-Evolution während der 200.000 Jahre Menschheitsgeschichte von einem IQ von 57 bei den heutigen Buschleuten in Südafrika bis zu einem IQ von 115 bei den heutigen aschkenasischen Juden gelten (8, 5).

Der „Gen-Pool“ eines Volkes ist der Gesamtbestand an Erbmerkmalen innerhalb eines Volkes (oder allgemeiner: einer Population). Flaschenhals-Ereignisse verändern also den „Gen-Pool“ eines Volkes, einer Bevölkerung immer auf ganz charakteristische Weise. Sie verstärken bestimmte Erbmerkmale eines Volkes und schwächen andere ab, je nach Selektionswert der jeweiligen Erbmerkmale innerhalb der neuen „kulturellen“ und natürlichen Umgebung, an die die Anpassungsprozesse stattfinden. Das heißt also, je nach den spezifischen Erbmerkmalen jener Familien, die auch innerhalb von kulturellen und biologischen Krisenzeiten noch kinderreich sind und es über die Generationen hinweg bleiben.

Diese oft wenigen Familien bilden den Kernbestand der „effektiven“ Bevölkerungsgröße eines Volkes, wie das die Populationsgenetik nennt. (6) Von der äußerlich sichtbaren Bevölkerungsgröße eines Volkes müssen also aus der Sicht der Populationsgenetik alle generationenübergreifend kinderlosen und kinderarmen Familien und Einzelindividuen abgezogen werden.

Beispiel Erbmerkmal Rohmilch-Verdauung

Da in Nordeuropa heute fast 100 % der Bevölkerung das Erbmerkmal besitzt, als Erwachsene Rohmilch verdauen zu können, und da das Bevölkerungen in Afrika und Asien nicht besitzen (oder auffällig anders genetisch verschaltet), müssen irgendwann in der Bevölkerungsgeschichte Nordeuropas jene Familien und kleinen „Ausgangspopulationen“ besonders viele Kinder gehabt haben, die aufgrund einer Mutation als Erwachsene Rohmilch verdauen konnten. Es wird dies in den Anfangsphasen der Einführung der Milchviehhaltung in Nordeuropa gewesen sein (vor 6.000 Jahren oder später). Vielleicht bei der Entstehung der frühen Trichterbecher-Kultur in der "Wangels-Phase" in Ostholstein um 4.100 v. Ztr.. (Siehe frühere Beiträge hier auf dem Blog.)

Der Kinderreichtum einer solchen "Ausgangspopulation" veränderte also den Bestand der Erbmerkmale der nordeuropäischen Bevölkerung in einer genetischen Neuanpassung an neue kulturelle Umstände. Menschen und Familien, die dieses Erbmerkmal nicht hatten, starben im Laufe von Jahrzehnten oder Jahrhunderten aus. Ähnliche „Szenarien“ kann man sich für die IQ-Evolution und die Evolution vieler anderer menschlicher Erbmerkmale denken (auch vieler erblicher Krankheitsneigungen). Und diese werden derzeit auf vielfältigsten Gebieten erforscht.

Es wäre nun interessant, wenn man im heutigen Vorderen Orient noch die gleiche vererbte Form von Polydaktylie (hier: Sechszehigkeit) vorfinden würde, wie sie für die Zeit vor 9.000 Jahren in Ain Ghazal festzustellen ist. Sieht man sich den hierfür relevanten, auf „Online Mendelian Inheritance in Man“ (ONIM) gebrachten Forschungsüberblick zu „Polydactyly“ an (9), wird nicht erkennbar, dass da für die genannte Fragestellung auf den ersten Blick gleich greifbare Erkenntnisse „herausgefiltert“ werden können. (Das war Stand Sommer 2007 - vielleicht hat sich bis heute schon etwas dort getan.)

Immerhin lässt sich aber dem Buch des Humangenetikers Armand Leroi der interessante Hinweis entnehmen (4, S. 119), daß Polydaktylie bei Afrikanern etwa zehn mal häufiger vorkommt als bei Europäern (bei einem von 300 afrikanischen Neugeborenen und nur bei einem von 3.000 europäischen Neugeborenen). Das ist ein erster Hinweis darauf, daß möglicherweise weltweit tatsächlich unterschiedliche Selektionsdrücke auf diesem Merkmal liegen. Niemand kann wohl heute schon sagen, welcher Art diese sein mögen. Weiterhin könnte dies als ein erster Hinweis darauf verstanden werden, daß die frühneolithischen Bauern im Vorderen Orient genetisch näher mit heutigen afrikanischen als mit heutigen europäischen Bevölkerungen verwandt gewesen sind. Aber das wäre noch sehr spekulativ, solange keine näheren Eingrenzungen geographischer Art vorgenommen werden können, sowie bezüglich der jeweiligen spezifischen Art der Polydaktylie (welcher Finger oder Zeh ist betroffen? und so weiter).

Es muß also derzeit noch vieles offen bleiben. Die neuen Fragestellungen in der Populationsbiologie von Völkern wie auch in der Archäologie lassen überall weite, unerforschte Erkenntnisgebiete aufscheinen, die in den nächsten Jahren und Jahrzehnten geschlossen werden. Das Erbmerkmal Polydaktylie ist hier auch nur als ein anschauliches Beispiel gewählt worden. Genauso könnte das Erbmerkmal Linkshändigkeit herausgegriffen werden oder das bekannte Erbmerkmal Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) (6). Viel eher noch als anhand der Sechszehigkeit wird erwartet werden können, daß man - wie bei den Bandkeramikern, dem höchstwahrscheinlich ausgestorbenen ersten Ackerbauern-Volk Mitteleuropas (5.600 - 4.900 v. Ztr.) -, aufgrund von Gen-Spuren in archäologischen Skelettresten überprüfen wird, inwieweit biologische Kontinuität oder genetische Verwandtschaft von ersten Ackerbauern der Menschheit gegenüber heute noch im Vorderen Orient (oder in New York oder Afrika) lebenden Völkern vorliegt oder nicht.


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Schrifttum:
  1. Schmidt, Klaus: Sie bauten die ersten Tempel. Das rätselhafte Heiligtum der Steinzeitjäger. Verlag C.H. Beck, München (2. Auflage) 2006
  2. Wikipedia deutsch: Göbekli Tepe. http://de.wikipedia.org/wiki/G%C3%B6bekli_Tepe
  3. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn: 10.000 Jahre Kunst und Kultur aus Jordanien. Ausstellung. April bis August 2004 (Ausstellungskatalog unter gleichem Titel im Philipp von Zabern Verlag, Mainz 2005) http://www.kah-bonn.de/index.htm?ausstellungen/jordanien/index.htm
  4. Leroi, Armand Marie: Tanz der Gene. Von Zwittern, Zwergen und Zyklopen. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2004
  5. Wade, Nicholas: Before the Dawn. Recovering the Lost History of Our Ancestors. The Penguin Press, New York, Mai 2006; siehe auch: http://topics.nytimes.com/top/reference/timestopics/people/w/nicholas_wade
  6. Jobling, Mark A.; Hurles, Matthew; Tyler-Smith, Chris: Human Evolutionary Genetics. Origins, Peoples & Disease. Garland Science, New York 2004
  7. Wikipedia englisch: Ashkenazi. http://en.wikipedia.org/wiki/Ashkenazi
  8. Malloy, Jason: A World of Difference: Richard Lynn Maps World Intelligence. A review of Richard Lynn’s “Race Differences in Intelligence: An Evolutionary Analysis”. Auf: www.gnxp.com, 01.02.2006 - http://www.gnxp.com/blog/2006/02/world-of-difference-richard-lynn-maps.php
  9. ONIM, Stichwort „Polydactyly“. Auf: http://www.ncbi.nlm.nih.gov/entrez/dispomim.cgi?id=603596

Mittwoch, 18. Juni 2008

Menschliche Gehirngene werden besonders häufig monoallelisch abgelesen - aber warum?

Ich habe vor einigen Tagen versucht, einen Beitrag zu einem neuen Forschungsartikel über "krankheitsrelevante SNP's im menschlichen Genom" (1) zu schreiben. Diese SNP's ("Single Nucleotid Polymorphism") unterscheiden sich zum Teil sehr auffällig zwischen den verschiedenen Populationen auf dieser Erde, was dazu führt, daß eine Medizin, in der Menschen europäischer Herkunft im Vordergrund stehen, zwangsläufig Menschen anderer Herkunft benachteiligt und diskriminiert.

Aber als ich mir über die Einzelheiten und logische Vorgehensweise der diesbezüglichen Studie (1) selbst zunächst klar werden wollte - in dem Sinne: was machen die da eigentlich? und wo könnten Haken der Interpretation der Forschungsergebnisse liegen - bin ich zu kläglich gescheitert, als daß ich dieses Scheitern publik machen wollte. (Vielleicht kann das ja ein anderer besser.)

Aber ein neuer, sehr schöner Artikel von Ulrich Bahnsen in der "Zeit" baut mein Selbstvertrauen wieder etwas auf: Offenbar blicken die Humangenetiker selbst immer weniger durch. Craig Venter wird beispielsweise mit dem schönen, entwaffnend offenen Satz zitiert: "Im Rückblick waren unsere damaligen Annahmen über die Funktionsweise des Genoms dermaßen naiv, dass es fast schon peinlich ist." Er spricht von Annahmen, die nur wenige Jahre zurückliegen.

Aber statt nur nur zu jubeln darüber, wie verwirrend alles geworden ist in der Humangenetik, zitiere ich hier lieber nur eine Stelle, die aus der derzeitigen Verwirrung heraus - "Wir hatten stundenlange Sitzungen. Jeder schrie jeden an" - Perspektiven auf neuen Ufer gibt, bei denen die genetische Forschung in der nächsten Zeit landen könnte.

Vor allem finde ich spannend, daß "autosomale monoallelische Expression" (was das ist, wird gleich näher erläutert) offenbar viel mit der Gehirnevolution beim Menschen zu tun haben könnte, was ein Harvard-Genetiker namens Andrew Chess vermutet.

(...) Das Wechselspiel im Menschengenom vermag nicht nur die individuellen Eigenheiten des Einzelnen zu erklären, es produziert auch das genetische Sortiment, aus dem die Evolution den Menschen weiter formt. Das macht einen weiteren verstörenden Befund verständlich: Die Spezies Homo sapiens unterliegt offenbar einer Turboevolution. Hunderte Bereiche im Erbgut haben sich weit schneller gewandelt als bei anderen Primaten. Neue Untersuchungen kommen sogar zu dem Schluss, dass die Zivilisation seit Beginn der Jungsteinzeit die menschliche Evolution um das 100-Fache beschleunigt haben muss.

Das Magazin Science kürte die Entdeckung dieser genetischen Variationen zum Durchbruch des Jahrs 2007.

(...) Bei bis zu zehn Prozent aller Erbanlagen – und vielleicht weit mehr – ist entweder nur die mütterliche oder die väterliche Variante aktiv. Dieses Muster, im Fachjargon »autosomale monoallelische Expression« genannt, wird bereits im Embryo festgelegt. Und dort trifft jede Zelle ihre eigene Entscheidung. »Wir glauben, dass dies geschieht, wenn sich der Embryo einnistet«, sagt der Genetiker Andrew Chess von der Harvard University. Die Folge: Der erwachsene Organismus gleicht einem Flickenteppich von Zellverbänden, deren genetische Netzwerke unterschiedlich gestrickt sind.

Ob einzelne Erbinformationen in diesen Genkaskaden von Vater oder Mutter stammen, hat entgegen der bisherigen Einschätzung drastische Auswirkungen. Ihr Informationsgehalt kann feine Unterschiede aufweisen, die aber in den hochkomplexen Netzen, die menschliche Eigenschaften steuern, profunde Konsequenzen haben. Aus dem Harvard-Labor von Andrew Chess stammt ein weiterer faszinierender Befund: Von monoallelischer Expression sind besonders häufig Gene betroffen, die im Verlauf der Menschwerdung einer beschleunigten Evolution unterlagen, und solche mit wichtiger Funktion im zentralen Nervensystem. Was das für die Arbeitsweise des Gehirns und die Konstruktion der Psyche bedeutet, ist derzeit nicht einmal im Ansatz abzuschätzen.

Aber was dann weiter geschrieben wird, glaube ich - ein wenig - besser zu wissen:

(...) Es sei eine Tatsache, dass eineiige Zwillinge genetisch nicht identisch sind, sagt Chess, »das ist ein wirklich aufregendes Resultat«. Nicht nur im ausschließlich mütterlichen oder väterlichen Aktivitätsmuster ihrer Gene, auch in ihrem CNV-Muster finden sich klare Differenzen. »Wir haben uns immer gefragt, wieso es Unterschiede zwischen eineiigen Zwillingen gibt, zum Beispiel bei der Anfälligkeit für komplexe Erkrankungen«, sagt Chess. »Unsere Entdeckung ist eine Erklärung.«

Das natürlich einerseits. Aber daß andererseits die jahrzehntelangen Zwillingsforschungen durch diese neuen Erkenntnisse obsolet geworden sein sollen, kann ich mir nicht vorstellen. Vielmehr ist für mich die Tatsache, daß eineiige Zwillinge ihre starke Einheitlichkeit im Phänotyp TROTZ des "Durchschüttelns" des Genoms beim Übergang von einer Generation auf die andere und danach und TROTZ individuell sehr unterschiedlicher CNV-Muster aufweisen, ein Hinweis darauf, daß man dieses "Durchschütteln des Genoms" auch nicht überbewerten darf.

Es wird wohl so sein, daß sich im Genom auch viel ändern kann, ohne daß sich das auf den Phänotyp auswirken muß. Wenn ein Gen an einer anderen Stelle gelandet ist, liest es der Körper eben dort ab, wenn er es braucht - wo sollte da für ihn das Problem liegen? Und dann haben eben eineiige Zwillinge einen unterschiedlichen Genotyp aber dennoch einen ähnlichen Phänotyp. Na, wir werden sehen, wie die Forschung weitergeht.
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1. Sean Myles et al: Worldwide population differentiation at disease-associated SNPs (4.6 08)

Dienstag, 17. Juni 2008

Kein "reiches Westend"

Zur Wohnkultur in den antiken Städten

Die Anordnung der Wohnungen von Sklaven, Freigelassenen und Reichen in Pompeji und Rom ist so eng aufeinander bezogen gewesen, daß die Handwerker, Kleinhändler und Kleinläden-Inhaber von Pompeji (oder Rom) zumeist in den gleichen Häusern wohnten, in denen auch die reichsten und bekanntesten Römer lebten. Diese Feststellung hat die Archäologen in den letzten Jahrzehnten verwirrt. Denn danach hat man sich berühmte, ehrwürdige römische Feldherrn wie Scipio oder andere in unmittelbarer Wohnnachbarschaft vorzustellen mit Fleischern, Schustern und so vielen anderen Angehörigen der "Plebs".

Abb. 1:  Garten des Hauses der Vettier in Pompeii (Wiki) (Rekonstruktion auf der Ausstellung der Boboli Gärten, 2007) (Wiki) - Fotograf: sailko

Man hat in Rom viel gesucht. Man hat aber kein separates "Viertel der Reichen" feststellen können - ebenso wenig in Pompeji. Offenbar ist die wohnrämliche Trennung von Handwerker- und Arbeiterwohnvierteln einerseits und den Wohnvierteln der "Reichen" und "Wohlhabenden" andererseits erst mit dem Mittelalter und der Neuzeit, und zwar besonders im 19. Jahrhundert in den europäischen Städten stärker ausgeprägt gewesen. 

Offenbar haben die antiken Römer - und sicherlich auch die antiken Griechen - in den Städten ganz anders zusammen gelebt und haben damit zwangsläufig auch die sozialen Unterschiede in ihrer Gesellschaft ganz anders wahrgenommen. 

Auch die kleinen Wohnungen der Plebs in Pompeji und Rom sind beispielsweise nach dem gegebenen Rahmen kunstvoll ausgestattet, wenn möglich mit einem kleinen, kunstvollen Garten - und "Illusions-Malerei" an den Wänden. All das gilt nicht nur für die Wohnungen der reichen Patrizier.  

"Sich und den Seinen" 

In der "FAZ" findet sich nun ein informativer Artikel (1) über viele hunderte von Grabfunden aus der römischen Antike, der den eben geschilderten Eindruck von der engen wohnlichen Nachbarschaft aller Sozialschichten in der Antike noch verstärkt. Es wird zunächst davon berichtet, wie Arm und Reich bei den hunderten von erforschten Katastrophen-Opfern von Pompeji kaum räumlich oder im Verhalten zu unterscheiden gewesen sind, da sie überall gemischt aufgefunden worden waren und sich in der Katastrophe ähnlich verhalten haben, ihre Kinder ähnlich mit dem eigenen Körper geschützt haben usw.. Und dann berichtet er weiter über die schon in Zeiten vor der Katastrophe angelegten Friedhöfe von Pompeji - und das kann einem komplett neu sein (1):

Dort finden sich zwar keine Gebeine, da im ersten Jahrhundert nach Christus noch die Brandbestattung überwog. Doch die Grabmonumente der Wohlhabenden, die der Archäologe Valentin Kockel in den achtziger Jahren eingehend untersucht hat, erzählen indirekt auch vom Leben der Unterschicht. So klangvoll die Ehrentitel und die Lebensläufe der Reichen sich auf diesen Grabmälern auch lesen - fast alle enden mit der Standardformel "sibi et suis". Wer "sich und den Seinen" ein Grabmal baute, bezog das Gesinde, Diener und Sklaven, mit ein. Deren Asche wurde zwar nicht, wie die ihrer Herrschaft, in kostbaren Glasurnen und bemalten Vasen beigesetzt, sondern in billigen Tongefäßen. Auch die Porträtbüsten oder -statuen blieben den Reichen vorbehalten. Doch die rings um den Grabaufbau des Dominus und der Domina angelegten Gräber der zur "familias" zählenden Untergebenen wurden mit steinernen Stelen markiert, die häufig die Konturen eines - allerdings gesichtlosen - Kopfes und der Schultern nachzeichnen.

Wenn man es also recht versteht, muß man sich das Zusammenleben der reichen und freien mit den armen und unfreien Menschen in den antiken Städten also noch enger miteinander verschränkt vorstellen, als man das aus neuzeitlicher Sicht gewohnt ist. In ähnlicher Weise wird man sich sicherlich auch das Zusammenleben von Freien und Sklaven außerhalb der Grenzen des Römischen Reiches vorstellen müssen, etwa im keltischen und germanischen Bereich. Die wohnräumliche Trennung in Arme und Reiche, wie sie wohl schon in den mittelalterlichen Städten, z.T. sogar in den Dörfern auftritt, wird also erst mit der christlichen Zeit in dieser Ausgeprägtheit üblich geworden sein in Europa.

Dabei könnte es sich um einen Sachverhalt handeln, aus dem sich mancherlei Schlußfolgerungen ziehen lassen - wie es ja immer ist, wenn man feststellt, daß man aus seiner eigenen Gegenwart unbewußt falsche Schlüsse auf eine ferne Vergangenheit gezogen hatte. In diesem Zusammenhang erfährt man auch, daß das Grab Alexanders des Großen heute immer noch gesucht wird, seit etwa 400 n. Ztr. (1), ...

... als in Alexandria niemand mehr den Sema kannte, den prunkvollen Grabbezirk der Ptolemäer, wo die Mumie Alexanders in einem Glas- oder Alabastersarkophag beigesetzt worden sein soll.
/ mit Vorschaubild versehen 
und leicht überarbeitet: 
6.1.2023 /

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  1. Baretzko, Dieter: Die Toten von Fiumicino, FAZ, 17.06.2008 (FAZ)

Mittwoch, 11. Juni 2008

Statt "getrennter Magisteria" - Naturwissenschaft und Philosophie vom Feinsten

Da ich an meiner Amazon-Rezension des neu ins Deutsche übersetzten Buches von Simon Conway Morris einigermaßen lang herumgebastelt habe, stelle ich sie auch hier - bebildert - in den Blog:

Viele Biologen und Geisteswissenschaftler wissen noch heute nur TEILHARD DE CHARDIN zu nennen, wenn es um Persönlichkeiten geht, die die philosophische These von der Zielgerichtetheit der Evolution vertreten. Sie sollten ihr Wissen möglichst bald aktualisieren und sich mit diesem Buch von Simon Conway Morris (siehe Bild) möglichst gründlich auseinandersetzen. Die deutsche Übersetzung erleichtert das nun - dankenswerterweise. Denn Teilhard de Chardin hat seine These nun wirklich nicht ausgeprägt "fachwissenschaftlich" und ausgeprägt anhand von fachwissenschaftlicher Forschungsliteratur vertreten. - Ganz im Gegensatz zu - Conway Morris!

Die Kernthese dieses neuen Buches kommt im originalen, englischen Untertitel am deutlichsten zum Ausdruck: "Inevitable humans in a lonely universe". (Warum wurde es für die deutsche Ausgabe nicht wörtlich übersetzt? Dann wüßte auch der deutsche Leser gleich besser, worum es eigentlich geht.)


Simon Conway Morris

Es handelt sich - für philosophisch ungebildete Menschen, die alles, was über Naturwissenschaft hinausgeht, leicht zu Kreationismus erklären, sei das betont - zunächst einmal mehr um das Erschließen philosophischer denn um das Erschließen rein naturwissenschaftlicher Erkenntnispotentiale. Aber das Buch kann auch aus rein naturwissenschaftlicher Sicht auf viele, neu zu erschließende, rein naturwissenschaftliche Erkenntnispotentiale aufmerksam machen.

Beiderlei Arten von Erkenntnispotentialen liegen in der Fülle der evolutionärer Konvergenzen, die Conway Morris erstmals auf allen Ebenen des biologischen Seins - von den Molekülen bis zu arbeitsteiligen Tier- und Menschen-Gesellschaften - in der Evolution aufgezeigt. Und zwar in der Fülle, in der sie bis zum Jahr 2003 erforscht worden sind. Das ist ein ganz anderer Stand als - etwa - der Stand von 1960.

Das Buch ist darum zweierlei. Es ist zum einen EIN PHILOSOPHISCHES BUCH nur allein mit naturwissenschaftlichen Tatsachen geschrieben. Möglicherweise ein Novum in der menschlichen Geistesgeschichte überhaupt. Denn es geschah dies entlang einer unglaublich reichhaltigen, wie gesagt aktuellen, naturwissenschaftlichen Forschungsliteratur (allein hundert Seiten Literatur-Angaben).

Zum anderen kann es auch als REIN NATURWISSENSCHAFTLICHES BUCH gelesen werden, weil es erstmals den Blick umfassender auf die schlichte biologische Tatsache des vielfältigen Vorkommens evolutionärer Konvergenzen lenkt, und damit auf die Frage nach ihren biologischen Ursachen und nach ihren Erkenntnispotentialen bezüglich der evolutionären Entstehungsbedingungen der jeweils hier konvergent evoluierten Eigenschaften.

Allerdings zählt Conway Morris evolutionäre Konvergenzen nur auf, wirft sie dem Leser fast "ungeordnet" vor die Füße. Das heißt, er gibt selbst noch keinen umfassenderen Vorschlag zu einer Theorie evolutionärer Konvergenzen. Das dürfte sich als einer der berechtigteren Haupteinwände gegen dieses Buch herausstellen.

Aber das Verdienst von Conway Morris bleibt auch so schon riesig, da er ein ganz neues Forschungsgebiet erschlossen hat. Es handelt sich allein aufgrund der umfassenden Sichtung der Forschungsliteratur um ein sehr anspruchsvoll zu lesendes Buch, das nicht schnell "durchflogen" werden kann. Es liest sich also nicht so "obenhin" wie ein Teilhard des Chardin. Sondern man muß es sich erarbeiten. Es muß mit hoher Konzentration gelesen werden. Aber angesichts des Revolutionären der vertretenen (philosophischen) These dürfte sich der Aufwand lohnen.

(Die deutsche Übersetzung scheint zwar hervorragend zu sein. Leider sind aber einige vordere, grundlegendere Kapitel nicht übersetzt worden, wodurch beim deutschen Leser ein falscher Eindruck entstehen könnte. Davor sei gewarnt, denn diese Kapitel sind grundlegend für die Überzeugungskraft der in diesem Buch insgesamt vertretenen philosophischen und naturwissenschaftlichen These.)

Nun noch einige, vielleicht weniger wichtigen Zusatzbemerkungen:

1. RICHARD DAWKINS hat das Buch sehr positiv besprochen. Das sei insbesondere deshalb betont, weil Conway Morris von atheistischen Biologen oft angegriffen wird (bspw. von PZ Myers). Es geschah dies in Dawkins' ebenfalls sehr lesenwertem Buch "Ancestor's Tale", das im Oktober auf deutsch erscheinen wird (unter dem Titel "Geschichten vom Ursprung des Lebens"). Dort im letzten Kapitel.

2. Es empfiehlt sich, das Buch von Conway Morris zusammen zu lesen mit den Büchern "Einsame Erde" ("Rare Earth") von PETER WARD und DONALD BROWNLEE, sowie "The Priviledged Planet" von dem amerikanischen Astrophysiker GUILLERMO GONZALEZ. Beide Bücher führen die Thesen von Conway Morris auf anderen Gebieten in zum Teil ganz erstaunlicher Weise weiter.

Guillermo Gonzalez

3. Auch empfiehlt es sich, "The Crucible of Creation" von Conway Morris, das dem hier besprochenen Buch voraufging, zu lesen, weil man in ihm die Entstehung der neuen These von Conway Morris verfolgen kann.

4. Es geschah dies in Auseinandersetzung mit dem bekannten Werk von STEPHEN JAY GOULD "Zufall Mensch", das wiederum zuvor in Auseinandersetzung mit den neuen Forschungen des Paläontologen Conway Morris über die Tierwelt des Präkambrium entstanden war.

Die neue These entstand also, das sollte damit aufgezeigt werden, keineswegs im "luftleeren Raum" oder ist in einem solchen angesiedelt, sondern entstand - vielleicht ebenfalls früher oder später "unvermeidlich", mit "Notwendigkeit" - aus tief in der Sache gegründeten fachwissenschaftlichen Diskussionen heraus.

Viele, vielleicht sogar die meisten Natur- und Geisteswissenschaftler haben noch gar nicht verstanden, daß man grundlegendste philosophische Themen, die das menschliche Selbstverständnis an sich betreffen, allein anhand von naturwissenschaftlichen Tatsachen behandeln kann, OHNE damit in unseriösen Theologie-geleiteten "Kreationismus" zu verfallen. Man wird vielleicht demgegenüber das gewohnte, rein geisteswissenschaftliche Behandeln von philosophischen Themen künftig als ebenso unseriös beurteilen wie heute schon den Theologie-geleiteten Kreationismus.

Die vielen Menschen jedenfalls heute immer noch so liebenswert erscheinende Trennung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften (in zwei separate "Magisteria") wird einmal weniger künftig aufrechtzuerhalten sein. Hierin liegt das eigentlich Revolutionäre auch dieses neuen Buches.

Dienstag, 10. Juni 2008

Genetische Unterschiede beim Menschen

Genetische Gruppenunterschiede beim Menschen machen wieder einmal Schlagzeilen.

In der "Time" von Mitte Mai wurde ein neues amerikanisches Gesetz gegen "genetische Diskriminierung" kommentiert. Und "Die Welt" brachte zu gleicher Zeit einen Bericht darüber, daß die Doping-Kontrollen des europäischen Sports aus genetischen Gründen bei Menschen asiatischer Herkunft nicht verfangen. Und "Bild der Wissenschaft" und "New Scientist" berichten heute über eine neue Studie, nach der Träger von ADHS-Genen bei kenianischen Hirtenvölkern als Nomaden besser ernährt sind als bei Seßhaften.

Und die Forscher der letztgenannten Studie erörtern die Selektionsbedinungen, unter denen erbliche Neigung zu ADHS in der Evolution erfolgreich ist, und warum sie niemals so erfolgreich war, daß alle Menschen einer Gruppe (oder die ganze Menschheit) die Anlage für ADHS besitzen. In jedem Fall wird es auch heute noch schwierig sein, Menschen mit ADHS "gleiche Chancen" zu gewährleisten wie Menschen ohne ADHS und umgekehrt. Die Natur "diskriminiert", unterscheidet, benachteiligt und bevorteilt hier ja überall selbst. Durch "banale" Gleichbehandlung baut man genetisch bedingte "Ungleichheit" unter Menschen nicht einfach ab.

Asiaten und Doping-Kontrollen

Und wie war das mit den Doping-Kontrollen? Am meisten wird ja mit Testosteron-ähnlichen Mitteln gedopt. Die Abbauprodukte des Testosterons, auf die kontrolliert wird, scheiden aber Asiaten nun gar nicht über den Urin aus. "Die Welt" wörtlich:
Asiaten fehlen bestimmte Enzyme. Das führt unter anderem auch dazu, dass Asiaten schon nach geringen Mengen Alkohol betrunken sind, während Schwarze und Weiße mehr als das Dreifache vertragen. Oder dass vielen Chinesen, Japanern oder Philippinern Milchprodukte deutlich schlechter bekommen als Europäern. Obendrein fehlt bei bis zu 90 Prozent aller Asiaten offensichtlich genetisch bedingt ein Enzym, das an der Ausscheidung von Testosteron beteiligt ist.
Wie aber geht man mit solchen und vielen anderen genetischen individuellen und Gruppen-Unterschieden bei Menschen um? Indem man einfach "genetische Diskriminierung" verbietet? Die "Time" macht auf die Problematik in diesem Zusammenhang aufmerksam:
... This law forbids the use of genetic information garnered in blood tests. But your genes affect your life in many ways. To avoid all the controversy around the concept of "intelligence," let's consider a slightly different concept called "talent." Is it unfair that Yo-Yo Ma can play cello better than I can? Or that people hire Frank Gehry instead of me when they want a beautiful building, or that Warren Buffett is a better stock picker? Sure, it's unfair. And it's unfair in precisely the same way the results of a genetic test are: my lack of talent at playing the cello is something I was born with and beyond my control. Could I have overcome my lack of talent through discipline and hard work? Maybe, but not enough to scare Yo-Yo. In fact, picking stocks or trying to play the cello is a genetic test, to some extent. It's just one that doesn't require the drawing of blood. But we can't outlaw discrimination on the basis of talent. We don't want to. Discrimination in favor of talent--rewarding a talented cellist over a lousy one--is how we get talent to express itself.

As writers like Richard Dawkins (The Selfish Gene) and Robert Wright (The Moral Animal) have taught us, it is hard to draw the line between aspects of the human condition that are genetically determined and aspects that are the result of free will. The science of evolutionary psychology can explain why you work hard and how you developed the talent for glad-handing that has served you so well. Even these behaviors are in your genes, just like a predisposition to develop cancer.

Dienstag, 3. Juni 2008

In neuer Weise über das "Rasse-Konzept" reden - Entwicklungen bei den "liberalen Linken"

Reden über das, "was jeder weiß" ... - zumindest als Humangenetiker heute

Im britischen "Prospect Magazine" bespricht der britische Sprachwissenschaftler Mark Pagel zwei neue Bücher über die derzeitigen Entwicklungen in der Humangenetik (via Globalclashes und Google News Alert) und Schlußfolgerungen, die aus diesen zu ziehen sind. Es handelt sich um Entwicklungen, die auch hier auf "Studium generale" schon vielfach thematisiert worden sind, und die den "Menschen, das Gruppenwesen" auch aus Sicht der Humangenetik und der Evolutionären Psychologie in den Mittelpunkt stellen, bzw. den Menchen als Angehörigen einer religiösen oder ethnischen Gemeinschaft.

Mark Pagel war St. gen. schon früher positiv aufgefallen, einmal als Erforscher von Sprachstammbäumen (siehe hier), außerdem durch seinen Beitrag im diesjährigen "Weltfragezentrum" von "The Edge" mit dem Titel "Wir unterscheiden uns mehr als wir gedacht haben" (gemeint ist wiederum: genetisch) (hier).

Und dies ist auch der Tenor seiner neuen Rezension, in der er sich auf der Linie des britischen Anthropologen Robin Dunbar bewegt, der sich über diese Thematik ebenfalls schon Gedanken gemacht hat (ebenso wie Richard Dawkins und viele andere) (siehe viele frühere St. gen.-Beiträge):
If we measure large numbers of genetic markers from populations around the world and then use them to form clusters, we get back groupings that bear a striking resemblance to what have conventionally been recognised as the major racial groups on the planet: Europeans and western Asians, Africans, people from the Americas, eastern Asians, and Australasians.
Und weiter:
To deny what everybody knows and to swap the word race for something less politically charged like "group" is just an act of self-denial and certainly no more accurate than the dreaded "r" word. It is also patronising — I would like to think we are all grown up enough to accept the facts and ready ourselves for the deluge to come. I say deluge because the more we measure, the more genetic differences we find among populations; and no kinds of difference can be absolutely ruled out (to be clear, there is no reason to expect Caucasians will do well out of this). We may in future need a language, and maybe even a new ethics, to discuss the new genetics.
"Wir liegen noch in unseren Windeln" - evolutionär gesehen

Das ist exakt der Standpunkt, den auch "Studium generale" vertritt. Alles, was hier gesagt wird, trifft den Nagel so deutlich auf den Kopf, daß es hier möglichst vollständig zitiert werden soll:
Why go on about these differences? Because they tell us something startling about our species. (...) We are a very young species. At about 100,000 to 150,000 years old, maybe less, we have just flickered into an existence that could go on—if we are an average species—for 8-10m years. We are not yet out of our nappies. Without going into the details, there are only two ways we could have amassed the genetic differences we have while still in this toddlerhood. One is that different races have been good at keeping to themselves since we spread around the world after walking out of Africa 70,000 years ago. Physical separation would have allowed many random differences to accumulate between groups. But this could only have occurred if inter-group migration were very low. It could also reflect active avoidance, something suggested by the growing sense among anthropologists that human history can best be understood as constant attempts by different group to annihilate each other.

The second way humanity could have achieved its genetic variation would be if natural selection has acted strongly on human populations, promoting different traits in different groups. I say "strongly" because the differences have been produced in a short time, and natural selection has had to work against the homogenising influences of migration and interbreeding. This is why we can be sure that when we see so-called "adaptive" differences, they tell us we are staring at people who have been selected to be very good at some challenge their environment throws at them, be it conserving heat, protecting the eyes from wind-blown sand, fighting off malaria or being able to digest milk proteins. These are not accidental differences.

Moreover, even after the ravages brought by the waves of expanding agriculturalists beginning about 10,000 years ago, followed more recently by the great imperial conquests of the last 800 to 900 years, humans still speak about 7,000 distinct languages. You don't get that by hanging out with each other.

So we are a species with a short but intense history of living in relatively isolated groups. (...) Our co-operation allows us to have a division of labour and exchange—someone mends the fishing nets while another collects coconuts—and the specialisation this allows is almost certainly responsible for our rapid spread around the world.

No other species does anything like this. The co-operative hunting seen among male chimpanzees is largely done among bands of (genetic) brothers. Ants co-operate, and they are capable of raising sophisticated armies, and of deploying them in complex ways against other ant armies. But ants are effectively genetic clones of each other and so don't mind giving aid or even their lives to help the collective.

Co-operation among unrelated humans is a different matter. (...) Humans have evolved sensitive mechanisms to discriminate between people likely to share their co-operative values from those that do not.

Trust, the topic of Marek Kohn's book of the same name, is what arises from this discrimination—and Kohn rightly recognises that trust promotes both self-interest and the common good.
Es folgen noch weitere Erörterungen.