Samstag, 8. Dezember 2007

Nachdenken über Altruismus - (3. Teil)

Ich lese gerade Rolf Degen "Das Ende des Bösen - Die Naturwissenschaft entdeckt das Gute im Menschen" (Piper, München 2007). Es läßt einen erneut über Altruismus nachdenken, da es in bunter Folge neueste Forschungen in der Soziobiologie referiert. (Rolf Degen gehört ja auch zu den wenigen, die in Zeitungs-Artikeln differenzierter zur IQ-Forschung Stellung nehmen, als das zumeist geschieht.) Ich habe jetzt etwa die Hälfte des Buches durch und stelle fest, daß bislang so gut wie nur das Gegenseitigkeits-Prinzip behandelt worden ist (um von vielen sonstigen, sehr typischen Mißverständnissen in Büchern dieser Art hier ganz abzusehen). Das entspricht auch dem, was derzeit überwiegend in der Soziobiologie erforscht wird, was zumindest in "Science", "Nature" oder "Journal of Theoretical Biology" derzeit bevorzugt veröffentlicht wird.

Friedrich Schiller zum Gegenseitigkeits-Prinzip in zwischenmenschlichen Beziehungen

Nun fiel mir beim Lesen folgendes ein, nämlich - natürlich! - wieder einmal Friedrich Schiller, bzw. grundlegendere Gedanken von ihm. Zwei "Sprüche" von ihm, die er zusammen mit Goethe im sogenannten - oft sehr lustigen aber oft auch sehr ernsten - "Xenien-Krieg" veröffentlicht hat:
Unterschied der Stände

Auch in der sittlichen Welt ist ein Adel; gemeine Naturen
Zahlen mit dem, was sie tun, schöne mit dem, was sie sind.
Und der zweite Spruch, der zumindest in meiner Reclam-Ausgabe "Gedichte" von Schiller gleich auf den vorigen folgt:
Das Werte und Würdige

Hast du etwas, so gib es her und ich zahle, was recht ist,
Bist du etwas, o dann tauschen die Seelen wir aus.
Auf den letzteren Spruch wollte ich vor allem hinaus. Wie ist das nun? Wie könnte man solche Gedanken nun in das moderne Denken über altruistisches, soziales Verhalten einordnen? Offensichtlich ist in beiden Sprüchen das Gegenseitigkeits-Prinzip angesprochen. Aber Schiller unterscheidet "adlige", "schöne" und "gemeine" Naturen, er unterscheidet Menschen, die etwas haben und Menschen, die etwas sind - herrlich! Wie wohl eine solche Unterscheidung in modernes soziobiologisches Denken eingegliedert werden kann? Wir verstehen doch nur allzu gut, was Schiller hier sagen will.

Menschen, die einem etwas bedeuten

Mir jedenfalls geht es so - und ich weiß, daß zugleich nicht mehr viele Menschen heute so denken: Hat jemand etwas, so zahle ich ihm tatsächlich gerne, was recht ist (so ich denn selbst genug habe ...), ist aber jemand etwas - oh, eine solche Erfahrung macht man heute nicht allzu häufig, als daß man darauf nicht mit sehr großer Dankbarkeit reagieren würde. Wenn ich einmal von persönlicheren Beziehungen in Freundschaft und Liebe absehe, so könnte einem dazu vielleicht Begegnungen im Studium einfallen, Begegnungen mit Menschen begegnet, die tatsächlich etwas sind - etwa bedeutendere Professoren. Zum Beispiel ein Vortrag von Manfred Eigen oder einen von Carl Friedrich von Weizsäcker. Oder die Vorlesungen des inzwischen schon verstorbenen Philosophie-Professors Malter in Mainz, damaliger Vorsitzender der Schopenhauer-Gesellschaft. Und man möchte meinen, daß es gerade solche Begegnungen in Freundschaft oder gar Liebe selbst sind - oder doch zumindest in Freundschaft und Liebe zur Wissenschaft (oder zur Kunst, zur Philosophie), die das Leben ganz besonders vertiefen können - im Sinne etwa des Dichters Gorch Fock:
"Du kannst dein Leben nicht verlängern noch verbreitern - nur vertiefen."
Ja, aber wo findet man sich mit all solchen Gedanken in modernem soziobiologischem Denken wieder? Wie verknüpft man beide Gedankenwelten miteinander? Auch Schiller - und all die bedeutenderen Menschen - sind doch biologische Wesen, auch ihr Altruismus muß doch erklärt werden. Natürlich begegnet man solchen "bedeutenderen" Menschen noch viel öfter in Büchern oder in Kunstwerken, zuweilen auch in bedeutenderen Filmen. Das Schaffen von Kultur ist wahrscheinlich sowieso schon jenes "Kommunikations-Mittel", mit denen Menschen, die etwas "sind", sich am besten verständigen können. Oder durch die Vermittlung von Kultur an andere Menschen als "Interpreten".

Die Mehrheit der heutigen Menschen "hat" etwas ...

Man könnte folgendermaßen mutmaßen: Wir leben heute in einer Gesellschaft, in der vornehmlich Menschen etwas "haben". Darauf legen sie vor allem Wert, etwas zu "haben". Ob sie zugleich auch - nebenbei - etwas "sind" - wer fragt danach? So mancher mag sich beispielsweise eine Zeit lang für den Video-Blog von Matthias Mattusek begeistert haben, seines Zeichens Leiter der Kulturredaktion des "Spiegel". Aber davon kann irgendwann auch gänzlich abkommen. Ist denn das tatsächlich ein Mensch, der etwas "ist"? Er tut jedenfalls so, schmückt sich mit vielen bedeutenden Gesprächspartnern (- und diese mit ihm?). Vielleicht ist er es in manchen ernsteren Stunden seines Lebens ja wirklich, meistens jedenfalls, so möchte man nach vielen Video-Blog-Beiträgen inzwischen vermuten, ist er es jedenfalls nicht. Größtenteils treibt er da kindlichen, bzw. kindischen Klamauk. Zur Abwechslung ganz gut - aber wenn's fast zur Regel wird? (Das was der Mattusek betreibt, ist katholischer "Sacro pop", wie das dieser Blog erst zwei Jahre später, Ende Februar 2010, durchschaut.)

Für einen typischen "Hedonisten" scheinen übrigens solche Fragestellungen nicht gerade die bevorzugten zu sein, oder? Denn sonst würde man ja sagen, daß es für einen noch Wichtigeres gibt, als sich gegenseitig mit Mitteln zu bezahlen, die "Lust" vergrößern können. Ja, natürlich, man kann ein solches "hedonistisches" Denken erweitern auf geistige "Besitztümer" - aber Schiller spricht darüber anders als ein typischer Hedonist. Er weiß, daß die Götter vor das Erringen geistiger Besitztümer den Schweiß gesetzt haben, nicht die Lust. Eher würde man ein Gegenseitigkeits-Austausch zwischen Hedonisten empfinden, als wenn sich möglichst stark einander ähnelnde "Lemminge" ohne jede eigene kräftige Individualität am ehesten geeignet wären für einen solchen Austausch, bei dem eben vor allem (wie in der derzeitigen Forschung) darauf geachtet wird, daß der jeweils andere etwas "hat", nicht daß er auch etwas "ist".

Eine Minderheit versucht, etwas zu "sein" ...

Aber wie steht es nun mit der Minderheit jener, versuchen, etwas zu "sein"? Mit wem können sie sich denn überhaupt noch austauschen? Hölderlin sagt, sie wohnen auf "getrenntesten Bergen", nur selten einmal kommt einer zum anderen hinüber. Ich habe einmal ein Interview des österreichischen Sängers Hubert von Goisern mit der Verhaltensforscherin Jane Goodall gesehen. Jane Goodall war eines Tages plötzlich einmal vor seiner Haustür gestanden, weil sie - offenbar - seine Musik schätzte und hoffte, in ihm auch einem Menschen begegnen zu können, der - möglicherweise - etwas "ist". Bei dem Interview (in Gombe, wo Hubert von Goisern sie zusammen mit Kamerateam besuchte) hatte ich das Gefühl: Jane Goodall sucht - vielleicht besonders nach dem Tod ihres zweiten Mannes, der in einer Krebsklinik in Österreich starb - nach Menschen, die - so wie sie - etwas "sind". Sie fand aber für diese Sehnsucht und Suche auch bei diesem Sänger Hubert von Goisern irgendwie nicht das Verständnis, das sie sich - wie mir in diesem Gespräch erschien: ganz offensichtlich - ersehnte.

Gibt es nicht viele solche "einsame" Menschen, die danach streben, etwas zu "sein"? Zumal wenn sie noch jung sind? Wieviele wohl geben dieses Streben bald auf, da sie in ihrer Mitwelt wenig Verständnis finden und geben sich zufrieden damit - etwas zu "haben"?

Was sagt die Soziobiologie dazu?

Aber was würde es denn nun heißen, weiter danach zu streben, etwas zu "sein", statt nur etwas zu "haben"? Was würde es heißen, "die Ideale seiner Jugend zu achten", auch dann noch, wenn man - wie Schiller in "Don Carlos" sagt - "Mann" geworden ist (bzw. erwachsene Frau)? Es könnte sein, daß einen das Unverständnis der Mitwelt, die Einsamkeit viele Entbehrungen bei diesem Streben auferlegt, die "Ideale seiner Jugend zu achten". Und es könnte sein, daß man das Aushalten dieses Umstandes (der Einsamkeit, des Mißverständnisses) erst jene Form von "echterem" Altruismus nennen könnte, die einem tatsächlich erforschenswert erscheinen könnte.

- Denn was muß es einen großartig interessieren, wenn Menschen genau darauf achten, daß der andere das zahlt, "was recht ist", weil er (bzw. wenn er) (nur) etwas "hat"? Um diese Fragestellung jedenfalls scheinen sich - zumindest - die ersten 136 Seiten des Buches von Rolf Degen zu drehen. Interessant - aber (für mich) ganz und gar unbefriedigend.

Wenn nun Menschen zahlen mit dem was sie sind, ist es eigentlich erlaubt, das trivial "Gegenseitigkeit" zu nennen? Ich möchte meinen, daß es dabei darauf ankommt, in welcher Gesellschaft sie leben. Begegnen sie vielen Menschen, die etwas sind, wird es ihnen nicht schwer fallen, selbst etwas zu sein. Die Tatsache, daß sie selbst etwas "sind", dürfte sie in einer solchen Gesellschaft nicht sehr viel psychischen Aufwand gekostet haben. Denn es würde sich dann um eine echt humane Gesellschaft handeln. Aber in Gesellschaften, in denen sie nur noch sehr selten auf Menschen treffen, die (gerade in diesem Augenblick) selbst etwas "sind", in solchen Gesellschaften dürfte es eines hohen Grades von Selbstlosigkeit bedeuten, dennoch selbst etwas sein oder bleiben zu wollen.

Ich fände es spannend, genau für solche Arten von Altruismus eine evolutionsbiologische Erklärung zu finden. Vielleicht hat man dann auch die eigentliche evolutionsbiologische Erklärung für das Schaffen von Kultur überhaupt.

Aber zum Schluß in diesem Zusammenhang noch einen Rat an Autor und Leser dieser Zeilen - von dem schlesischen Dichter Angelus Silesius aus dem 17. Jahrhundert. Ein wohl unsterblicher Rat:
Freund, so du etwas bist, so bleib doch ja nicht stehn.
Man muß von einem Licht fort in das andre gehen.
--------------------

Erst während des Schreibens fiel mir ein, daß es ja ein berühmtes Buch gibt, das im Titel heißt "Haben oder Sein". Google-Suche belehrte mich: Es ist von Erich Fromm. Also wieder einer, der sich von der Philosophie G. F. W. Hegels (und damit indirekt von der Philosophie Friedrich Hölderlins) in seinem Denken hat befruchten lassen. Diesen Erich Fromm könnte man sich ja auf solche hier behandelten Fragestellungen hin auch noch einmal anschauen ...

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen