Freitag, 21. Dezember 2007

Nachdenken über Altruismus (- 5. Teil)

Die Evolution des Altruismus als zeitlose Kernfrage der Philosophie

Das neue Buch des deutschen Astrophysikers Günther Hasinger "Das Schicksal des Universums - Eine Reise vom Anfang zum Ende" (1) läßt einen wieder neu über die Stellung des Menschen im Universum nachdenken - insbesondere natürlich auch des "altruistischen" Menschen. Denn der Mensch ist ja per se ein soziales und damit der Möglichkeit nach altruistisches Wesen. Und vielleicht ist es ja sogar irgend ein "Sinn" des Menschen innerhalb dieses Universums, altruistisch zu sein, Verantwortung im Sinne altruistischer Anliegen zu übernehmen? - - -

Jede Beschäftigung mit der modernen Physik macht auf's Neue bewußt, daß unser gewohntes rationales ("naturwissenschaftliches") Denken nicht ausreicht, die Wirklichkeit unserer Welt vollständig zu erfassen. Die Materie selbst und die grundlegenden Gesetzmäßigkeiten des Universums sind prinzipiell durchdrungen von "nichtrationalen" Aspekten. Schon allein die räumliche Ausdehnung des Weltalls ist mit unserer menschlichen Vernunft, mit unserem rationalen menschlichen Denken nicht nachzuvollziehen, auch wenn wir Zahlen für diese Ausdehnung nennen können und uns dadurch eine "Ahnung" von der Größe des Weltalls - oder auch nur unserer eigenen Galaxie, der Milchstraße - verschaffen können.

In der Kulturgeschichte der Menschheit haben die Religionen und Philosophien schon immer eine Fülle von Deutungen für diese "nichtrationale" Seite der Wirklichkeit gegeben. Man denke etwa an den chinesischen Philosophen Laotse und sein rätselhaftes "Tao". Man denke an so viele andere Dichter, Philosophen und religiös Inspirierte. Dabei hat sich dann natürlich auch viel Aberglauben eingeschlichen, den zumeist erst die moderne Naturwissenschaft als solchen eindeutig hat abgrenzen können von gesichertem naturwissenschaftlichen Wissen. Dadurch ist es möglich geworden, daß es uns heute viel leichter fällt als Menschen früherer Jahrhunderte und Jahrtausende, Aberglaube und Unfug von dem naturgesetzlichen Vollzug im natürlichen und menschlichen Geschehen zu unterscheiden.

Der Blitz hat keine besondere Bedeutung, keinen besonderen Bezug zum Menschen mehr, sondern ist einfach ein Naturereignis, wie das Wetter überhaupt. Und so mit unzähligen anderen Dingen auch. Die Natur ist erbarmungslos und nimmt auf die Wünsche des Menschen gar keine Rücksicht, wie schon Hermann Hesse wußte (siehe früherer Beitrag hier auf dem Blog). Deshalb lehnen wir heute auch alle "abergläubischen" Sinndeutungen der Stellung des Menschen im Weltall ab. Um so eher aber wird uns eine Sinndeutung des Lebens des Menschen überzeugen, um so nahtloser sie in Übereinstimmung zu bringen ist mit dem gesicherten naturwissenschaftlichen Forschungsstand unserer Zeit.

Einheits-Erleben mit dem Weltall als "Lohn" für gute Taten?


Ich möchte im folgenden nun zunächst eher philosophisch oder philosophisch-psychologisch argumentieren, um auf einigen Wegen der Spekulation und Exploration möglicherweise stärker in die Nähe dessen zu gelangen, was das tiefere Wesen des menschlichen Altruismus eigentlich sein könnte und in welcher Beziehung es stehen könnte zur nichtrationalen Seite der Wirklichkeit im Weltall. Bzw.: Ob da überhaupt ein Bezug hergestellt werden kann. Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz hat diesen Bezug in Form des menschlichen "Werterlebnisses" hervor gehoben, vor allem in seinem grundlegenden Buch "Der Abbau des Menschlichen".

Die Frage, die in mir auftauchte beim Lesen von Günther Hasinger (1) war: Könnte man sagen: Der Altruist (der "wahre" Altruist) wird "belohnt" durch das (nichtrationale) Einheits-Erlebnis mit dem Universum? (Dies würde dann ein "Werterlebnis" im Sinne von Konrad Lorenz sein.) Könnte dem Menschen dies Rechtfertigung und Genugtuung sein? Es könnte hier vom nichtrationalen Einheits-Erlebnis mit dem gesamten Universum die Rede sein etwa im Sinne der neuplatonischen Philosophen in der Antike und ihren Wiederbelebern in der neuzeitlichen Philosophie. Die Neuplatoniker haben sowohl von Seiten der Philosophen des deutschen Idealismus (Hegel und Schelling) wie auch von Seiten moderner Philosophen - etwa bei der philosophischen Deutung des anthropischen Prinzips (hier wäre unter anderem John Leslie zu nennen [2 - 4]) - Beachtung erfahren.

Der Altruist also wäre in diesem Sinne "belohnt" für seine Tat "durch" das neu erreichte Einheitsbewußtsein mit "Gott". Auch Giordano Bruno etwa lehrte ja eine solche Möglichkeit des Einheitserlebnisses mit dem gesamten Weltall. "Gott" oder "das Göttliche" wären hier also als die nichtrationale Seite des gesamten Weltalls gedeutet. (Also in keiner Weise als Person, sondern im Sinne Spinoza's oder Giordano Bruno's pantheistisch.) (Nebenbei: Der Altruist könnte sich auch "belohnt" fühlen durch das gemütvolle Erleben der Weihnacht.)

Einheitserleben verbunden mit Schmerz und Entsagung


Es wird sicherlich nicht leicht sein, das Einheitserlebnis mit dem Universum (im Sinne der Neuplatoniker) konsensbildend zu charakterisieren. Aber sein vielleicht deutlichstes Charakteristikum (zumindest heute, bzw. in der Neuzeit allgemein) könnte sein, daß es mit Schmerz, mit dem Gefühl der Entsagung, dem Gefühl menschlicher Bedeutungslosigkeit im Angesicht des Universums verbunden ist. Andererseits ist es vielleicht besonders geeignet, die Erinnerung an die eigene Sterblichkeit zu wecken. Oder genauer: Um so wertvoller einem das Einheitserleben mit dem gesamten Universum wird, um so schmerzlicher tritt einem die Begrenztheit des eigenen menschlichen Lebens ins Bewußtsein. Etwa im Sinne von Erich Kästner's Jahreszeiten-Gedicht zum "Mai", dem "Mozart des Kalenders" (Auszug):
...

Melancholie und Freude sind wohl Schwestern.
Und aus den Zweigen fällt verblühter Schnee.
Mit jedem Pulsschlag wird aus Heute Gestern.
Auch Glück kann weh tun. Auch der Mai tut weh.

...
Der Egoist erstrebt schmerzfreie Glückserfüllung (die "hedonistische Tretmühle"), die im Extremfall das im Sinne der Neuplatoniker in der menschlichen Seele als Möglichkeit angelegte Einheitserleben mit dem Weltall gänzlich zum Verstummen bringen kann, da der damit verbundene Schmerz und das oft schmerzvolle, daraus entspringede Verantwortungsgefühl (im Sinne etwa von Hans Jonas) eher gemieden als gelebt werden könnte. - "Was ist Seele?" könnte der Hedonist dann als "letzter Mensch" im Sinne Nietzsche's fragen und - - - "blinzeln".

Das, was also das eigentlich Altruistische ist oder sein könnte am Verhalten des Altruisten, das ist, daß er Schmerz zuläßt, daß er Schmerz nicht ausweicht. Dadurch könnte er auch selbst mehr Empathie-Fähigkeit für alle Leidtragenden in der Welt entwickeln. - Daß man das "Einsenken des Göttlichen in die eigene Seele" durch ein solches Zulassen von Schmerz jedoch geradezu "erzwingen" könnte, wird ein neuplatonischer Philosoph sicherlich ebenso verneinen. Es besteht sicherlich keine streng kausale Verbindung zwischen moralisch gutem Verhalten und der Nähe zu Gott. Diese philosophische Einsicht der moralischen Freheit gegenüber Got hat schon den Kern der protestantischen Welthaltung ausgemacht, nämlich Luthers Gnadenlehre.

Es gibt ja auch keine allgemein-gültige ("rationale") Definition moralisch guten Verhaltens. Im Gegenteil, gesellschaftliche "Konventionen" auf diesem Gebiet neigen meist dazu, sich ziemlich bald von ursprünglich moralischem Verhalten im Sinne der nichtrationalen Seite der Wirklichkeit abzusperren, da sie eben in der Regel recht schnell erstarrt. Das "Undefinierbare" in diesem Bereich wird eben gerade eines der wichtigeren Wesenszüge dieses Bereiches sein, die ihn so wertvoll für den Menschen machen können.

Die Freiheit und Verantwortung des Menschen würde also darin bestehen, aus völlig freiem Entscheid und freier Verantwortung sich für das Gute oder Schlechte zu entscheiden - in jeder Minute des eigenen bewußt gelebten Lebens. Er hätte sich dann ständig darin zu bewähren.

Die Frage wäre dann weiterhin, durch welche evolutionspsychologischen und -biologischen Gesetzmäßigkeiten eine solche Form von Altruismus evolutionsstabil gehalten wurde und wird in der Evolution und in der Geschichte des Menschen. Es könnte ja sein, daß man durch eine solche philosophische oder religiöse "Himmelsguckerei" (?) die Rationalitäten genetischen Überlebens hier auf der Erde völlig aus den Augen verliert, und daß deshalb solche menschlichen Eigenschaften, Neigungen zu Altruismus leicht aussterben könnten. Diese Frage muß an anderer Stelle weiterverfolgt werden. Doch um die Bedeutung der Thematik noch stärker herauszuarbeiten die folgenden abschließenden Ausführungen.

John Leslie als Philosoph der universellen und menschlichen Güte


Die bis hierher getätigten Gedanken wären sicherlich sehr im Sinne des kanadischen Philosophen John Leslie, nach dessen neuplatonischer philosophischer Deutung das Weltall entstand, um dem Prinzip der Güte zur Verwirklichung zu verhelfen - und zwar: im menschlichen Leben hier auf dieser Erde (2, S. 13):
John Leslie hält für möglich, daß eine höhere Instanz, der Gott seines neuplatonischen Glaubens, die Parameter des Universums so ausgewählt hat, daß beobachtendes Leben entstehen mußte. Dieser Gott ist nicht als Person, sondern als Prinzip der Güte aufzufassen, das zur Verwirklichung drängt. Für Leslie stellt diese Verwirklichung eines Prinzips eine Möglichkeit dar, bei der man bei dem Versuch, die Natur zu verstehen, ankommen kann, von der man aber keinesfalls als Forderung ausgehen darf.
Insofern wäre die Evolution des Altruismus und daraus abgeleitet die Evolution derartiger neuplatonischer Religiosität das Ziel der Weltall-Entsteung und -Entwicklung ebenso gewesen wie das Ziel der Evolution auf dieser Erde. Gewaltige Perspektiven! Leslie würde sich darin treffen mit dem britischen Paläontologen Simon Conway Morris, dessen bedeutendes Buch über evolutionäre Konvergenzen den Untertitel trägt: "Inevitable Humans in a Lonely Universe".

Warum es nun ausgerechnet das Prinzip der Güte sein soll, ist philosophisch-rational nur schwer noch weiter zu hinterfragen. (John Leslie macht mir zu solchen Fragen viel zu weitschweifige Ausführungen, die mir von seiner Grundeinsicht eher abzulenken scheinen als zu ihr zurückzuführen). Nur durch eine einheitliche und in sich stimmige philosophische Erklärung aller Erscheinungen des Weltalls aus diesem Prinzip der Güte heraus scheint es, daß weitere Kriterien gegeben werden könnten, die diese philosophische Deutung der nichtrationale Seite der Wirklichkeit, konsensfähig machen könnte. - Aber wer möchte denn eigentlich nicht meinen, daß die Verwirklichung menschlicher Güte dem menschlichen Leben Sinn geben könnte?

"Wie muß eine Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein?"


Zu den geforderten philosophischen Erläuterungen müßte sicherlich hinzutreten, daß sich bewußt gelebte Güte nicht "determiniert", zwangsläufig verwirklichen kann, sondern daß ein Wesenszug menschlicher Güte die Freiheit ist, die Freiheit der Wahl, sich für gütiges Verhalten oder dagegen zu entscheiden. Dann käme man zu der Fragestellung: Wie hat die Evolution menschliche (moralische) Freiheit ermöglicht? Man wäre dann bei den grundlegenden Fragestellungen, die schon das "Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus", wohl 1796 oder 1797 verfaßt von Friedrich Hölderlin, aufgeworfen hat. Es fragte bezüglich einer angenommenen "Schöpfung aus dem Nichts", die auch die moderne Physik inzwischen - überraschenderweise - annimmt: "Wie muß eine Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein?" Diese Fragestellung ist also gestellt aus der Sicht der unterstellten neuplatonischen Gottheit selbst oder des "philosophischen Ichs", das sich hineinversetzt in die "Fragestellungen", die bei der Weltenschöpfung vorgelegen haben könnten!
... Da die ganze Metaphysik künftig in die Moral fällt – wovon Kant mit seinen beiden praktischen Postulaten nur ein Beispiel gegeben, nichts erschöpft hat –, so wird diese Ethik nichts anderes als ein vollständiges System aller Ideen oder, was dasselbe ist, aller praktischen Postulate sein. Die erste Idee ist natürlich die Vorstellung von mir selbst als einem absolut freien Wesen. Mit dem freien, selbstbewussten Wesen tritt zugleich eine ganze Welt – aus dem Nichts hervor – die einzig wahre und gedenkbare Schöpfung aus dem Nichts. – Hier werde ich auf die Felder der Physik herabsteigen; die Frage ist diese: Wie muss eine Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein? Ich möchte unserer langsamen, an Experimenten mühsam schreitenden Physik einmal wieder Flügel geben.

So, wenn die Philosophie die Ideen, die Erfahrung die Data angibt, können wir endlich die Physik im Großen bekommen, die ich von späteren Zeitaltern erwarte. Es scheint nicht, dass die jetzige Physik einen schöpferischen Geist, wie der unsrige ist oder sein soll, befriedigen könne.
Die Philosophie von Hegel war ein erster philosophischer Entwurf, der dieses philosophische Programm zur Erfüllung zu bringen suchte. Der deutsche Philosophie-Historiker Dieter Henrich hat inzwischen zahlreiche andere philosophische Entwürfe herausgearbeitet, die ebenfalls in diesem "Ältesten Systemprogramm" wurzeln. Zu ihnen gehören vor allem die philosophischen Entwürfe von Friedrich Hölderlin, der die grundlegende Wende zum philosophischen Idealismus - nach Henrich - wohl nicht in der Weise mitgemacht hat, wie ihn seine Freunde Hegel und Schelling vollzogen haben. (Aufzeigbar unter anderem an Hölderlin's Text "Urteil und Sein".)

Insgesamt könnte also deutlich geworden sein: Man befindet sich mit der Frage nach der Evolution des menschlichen Altruismus in einem Kernbereich uralten abendländischen philosophischen Fragens. Das wird wohl von den modernen soziobiologischen Altruismus-Forschern noch viel zu wenig zur Kenntnis genommen und berücksichtigt.
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  1. Hasinger, Günther: Das Schicksal des Universums. Eine Reise vom Anfang zum Ende. Verlag C.H. Beck, München 2007
  2. Genz, Henning: War es ein Gott? Zufall, Notwendigkeit und Kreativität in der Entwicklung des Universums. Carl Hanser Verlag, Wien 2006
  3. Leslie, John: Universes. London 1996
  4. Leslie, John: Infinite Minds - A Philosophical Cosmology, Oxford 2001

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