Freitag, 26. Oktober 2007

Eckart Voland - Nachdenken über Altruismus und Gruppenmoral

Auf das Buch von Eckart Voland "Die Natur des Menschen - Grundkurs Soziobiologie", wurde man erneut hingewiesen durch Michael Blume's begeisterten Hinweis. - Und das ist tatsächlich ein ganz hervorragendes Buch, das leicht unterschätzt werden kann. Denn es sind nicht nur "alte Gedanken neu aufgewärmt" (wie man hätte erwarten können), sondern auch neue Gedanken eingestreut. Nicht nur an sich neue, sondern auch gegenüber den ursprünglichen FAZ-Essay's (aus denen dieses Buch hervorgegangen ist) neue Gedanken. (s. FAZ - jetzt leider kostenpflichtig)

Die "evolutionär in Zwischengruppenkonflikten geformten Psyche" des Menschen

So ist das Kapitel "Das Doppelgesicht der Moral" gegenüber dem ursprünglichen FAZ-Essay deutlich umgeschrieben und erweitert worden. Ich finde die mir sehr treffend und gelungen erschienene Phrase von der "evolutionär in Zwischengruppenkonflikten geformten Psyche" des Menschen im Buch-Essay nicht mehr. Diese Phrase hatte deutlicher als alle anderen Ausführungen gemacht, daß es auch "Gruppenselektion" gewesen sein könnte, die menschlichen Altruismus hervorgebracht hat. Dies wird ja von vielen soziobiologischen Denkern angenommen, etwa von William D. Hamilton, Richard Alexander, David Sloan Wilson, Edward O. Wilson, Kevin MacDonald und vielen anderen.

Dafür formuliert Voland dann aber auf den Seiten 28 bis 32 eine mehr oder weniger neue Theorie zur "Evolution persönlicher Opferbereitschaft" und - damit verbunden - "des Gewissens", die sicherlich noch mancherlei Diskussionbedarf mit sich bringt. Offenbar wird auf diese Weise versucht, Altruismus gegenüber größeren Gruppen (d.h. in komplexen Gesellschaften) anders zu erklären als durch Gruppenselektion. Voland beruft sich dabei insbesondere auf einen "Science"-Aufsatz von Herbert A. Simon (1990) "A mechanism for social selection and successfull altruism", dessen Inhalt er folgendermaßen wiedergibt:
"... Man könnte es das 'Steuer-Modell' nennen. Es basiert auf der simplen Überlegung, daß es im Fitneßinteresse einer Familie liegen könnte, einen Teil der Nachkommenschaft zu wahrhaften Altruisten zu erziehen, die möglicherweise ihr Leben für die Gemeinschaft einsetzen, unter der Voraussetzung, daß sich auf diese Weise der Bestand der eigenen familiären Linie sichern läßt." (S. 32)
Voland geht von einer deutlichen und langfristigen Beeinflussung des Gewissens der Kinder durch die Eltern aus (was, soweit ich sehe, in Widerspruch steht zu den Thesen von Judith Rich Harris), und vernachlässigt dabei meiner Meinung nach die Beeinflussung des Gewissens durch die weitere Gesellschaft (bzw. die Gruppe der Gleichaltrigen). Aber trotzdem ist die These es wert, bedacht zu werden. Sie zeigt wieder einmal, wie sehr sich die Soziobiologie immer noch unter Erklärungsdruck fühlt, den Altruismus gegenüber größeren Gesellschaften (die über 500 Personen hinausgehen) zu erklären, und zwar jenen Altruismus, der nicht mit besonders einfachen tit-for-tat-Modellen erklärt werden kann und ebensowenig mit einfachen Verwandten-Altruismus-Modellen.

Heldentum in komplexen Gesellschaften - zur Sicherung der eigenen Familien-Linie?

Aber ob die Evolution tatsächlich so arbeitet und mit einem "Gewissen-Steuer-Modell" Evolutionsstabilität für (genetisch oder nur "memetisch" mitmotivierte?) Opferbereitschaft erreicht? Könnte man sich nicht auch überlegen, ob überdurchschnittliche Opferbereitschaft für eine größere Gesellschaft ganze Familienlinien innerhalb dieser Gesellschaft aussterben läßt, womit ihre - Altruismus und Opferbereitschaft veranlassenden (und mitbeeinflussenden) Gene oder Meme ebenfalls ausgestorben wären?

Man denke doch nur an die hohen Kriegsverluste seit Jahrhunderten in vielen adligen - etwa preußischen oder russischen - Familien, in denen es üblich war, daß die Söhne Offiziere wurden und Kriegsdienst leisteten. Das muß wohl noch genauer durchdacht und empirisch überprüft werden. Diese Überprüfung muß nicht so schwer sein: Es ist einfach zu fragen, ob die Adelsfamilien durch Kinderreichtum langfristig die Kriegsverluste kompensiert haben. Aber ob die Möglichkeit zum Kinderreichtum tatsächlich vor allem durch den Kriegsdienst der Söhne sichergestellt wurde oder nicht doch eher durch disziplinierte Bewirtschaftung der Familiengüter, bzw. durch eine Beamtenlaufbahn? Und warum mußten im 19. Jahrhundert immer mehr "Bürgerliche" zugelassen werden für die Offizierslaufbahn? Waren etwa in der unter starkem Bevölkerungswachstum stehenden Gesellschaft nicht mehr genügend Adelsfamilien dafür vorhanden? Oder zog der Adel beim Bevölkerungswachstum anteilmäßig parallel? Fragen, Fragen, Fragen ...

Das Wir-Gefühl ...

Im nächsten Kapitel findet sich der folgende Gedankengang über die langfristigen Entwicklungen im neuzeitlichen Europa:
"... In der zentralen Tendenz nimmt die Präferenz des Ich über das Wir zu. Kollektive zerfallen zu Einzelkämpfern. Das Gefühl und das Wissen um das 'Wir' gehen zunehmend verloren. Dieser Verlust wird offensichtlich nicht gut verkraftet. Die neuronalen Schaltkreise - Experten sprechen auch gern von 'darwinischen Algorithmen', um das etwas altbackene Wort 'Instinkt' zu vermeiden -, die neuronalen Schaltkreise also für das Wir-Gefühl suchen Input. Das Gehirn braucht ganz offensichtlich Selbstvergewisserung über das Wir, braucht zumindest einen Hauch kollektivistischer Ich-Entgrenzung. Und dies nicht etwa, weil es in der Moderne immer noch funktional wäre, im Wir auf- und unterzugehen, nein, der Bedarf entsteht einfach nur deshalb, weil es die entsprechenden Programme des Gehirns gibt, die bedient werden wollen."
Man könnte zu dem letzteren Satz viele Einwände bringen, etwa den, daß das Wir-Gefühl des aschkenasischen Judentums noch in den letzten 1.000 Jahren möglicherweise evolutionäre Weiterentwicklung bewirkt hat (z.B. im IQ). Warum also sollte das gegenwärtig und künftig nicht ähnlich funktionieren? Aber das ist ein langes Thema.

Prägungsähnliches Lernen von Aspekten der Gruppenmoral, der Heimatliebe und vielem anderem

Außerdem bringt dann das letzte Kapitel "Lernfähig aber nicht belehrbar" endlich die Literatur-Nachweise, auf die ich schon lange gewartet habe, für jene spannende These des Essay's, die folgendermaßen formuliert ist:
"... Wie neuere Untersuchungen vermuten lassen, werden neben der Sprache auch Aspekte der Gruppenmoral, Nahrungspräferenzen, der Umgang mit Zeit und Risiken, Landschafts- und Heimatliebe, Kinderliebe, Einstellungen zum Inzest und anderes mehr auf eine vergleichbare, prägungsähnliche Art und Weise gelernt."
Die im FAZ-Essay in dieser Aufzählung noch mit aufgeführten Phänomene Sexualmoral und Geschlechtsstereotypen sind im Buch - erst mal noch? - weggelassen worden. Schienen Voland die Belege dafür noch nicht sicher genug?

Ich habe mir nun den Literaturnachweis für die Landschafts- und Heimatliebe genauer angeschaut (im Buch "Evolutionary Aesthetics", hrsg. von E. Voland, 2003) und vermute, daß diese Aussage tatsächlich zunächst nur eine "Vermutung" von Herrn Voland ist, die nur andeutungsweise durch die angeführte Literatur schon sicher belegt würde. Zum Beispiel wird dort aufgeführt, daß Kinder eindeutig Savannen-Landschaften als Lieblings-Landschaften bewerten (und zwar - offenbar - kulturunabhängig!!!), daß aber nach der Pubertät zum Beispiel Getreide-Bauern stattdessen jene Landschaft bevorzugen, in der sie arbeiten, ebenso wie Rinder-Bauern und Förster die ihre (alle im Westen der USA befragt). Ob es sich hier tatsächlich um ein "prägungsähnliches Lernen" handelt, scheint mir noch nicht sehr sicher belegt und tiefgehend behandelt - aber gewiß auch nicht ausgeschlossen.

Prägungsähnliches Lernen von Kinderliebe?

Auf jeden Fall weiterhin eine spannende, weiter zu verfolgende These. Der Literaturnachweis für das prägungsähnliche Lernen von Kinderliebe "When does Liking Children Lead to Parenthood?" (Athanasios Chasiotis u.a. in Journal of Cultural and Evolutionary Psychology, 2006) vertritt die These:
"The model assumes that the interactional context of having younger siblings during childhood shapes the development of implicit prosocial motivation which in turn influences the verbalized, explicit articulation of parenting attitudes finally leading to becoming a parent. After examining the data for comparability across three selected cultures from Latin-America, Africa, and Europe, the model was tested via structural equation modelling. Results showed that the model is valid for males as well as females and can be applied in all three cultural samples. These findings point at a universal developmental pathway by specifying contextual and motivational factors leading to parenting behavior."
Grob gesagt wird also empirisch belegt (was hier auf dem Blog schon behandelt wurde), daß Menschen, die mit jüngeren Geschwistern aufwachsen auch selbst mehr Kinder haben. Wieder die Frage: Ist das prägungsähnliches Lernen? - Aber warum eigentlich nicht? So etwas ähnliches doch bestimmt?

Für das prägungsähnliche Lernen von Aspekten der Gruppenmoral ist als Buch-Verweis Marc Hauser "Moral Minds" (2006) angegeben. Das wird man sich daraufhin noch anschauen müssen. Man könnte sich ja tatsächlich vorstellen, daß Aspekte der Sexualmoral und Geschlechtsstereotypen, also z.B. das Vorherrschen von Monogamie (Ostasien, Europa), bzw. von Polygamie (Afrika) von solchen frühkindlichen Prägungen mitbeieinflußt sein könnte. Das prägungsähnliche Lernen all dieser Dinge ist sicherlich von der psychologischen und evolutionspsychologischen Forschung bislang noch allzu stiefmütterlich behandelt worden.

Jüngste Humanevolution nicht berücksichtigt

Was an dem Buch zu bemängeln ist, ist sicherlich, daß immer noch durchgängig in jedem Raisonement jüngste Humanevolution in den letzten 10.000 Jahren gar nicht vor Augen steht und darum auch gar nicht in Erwägung gezogen wird bei der Erklärung des Verhaltens des heutigen Menschen. Hier hat die gesamte Soziobiologie erhebliches Nachhol-Bedürfnis, denn damit hatte ja die "alte Schule" seit Konrad Lorenz und auch seit William D. Hamilton niemals in dem Ausmaß und der Konkretheit gerechnet wie uns dies derzeit von der Humangenom-Forschung vorexerziert wird. (Am ehesten noch all jene, die - meist noch sehr theoretisch - "Gen-Kultur-Koevolution" als Rückkoppelungs-Prozeß durchdacht haben wie: Edward O. Wilson, Charles Lumbsden oder William Durham.)

Die ganze von Voland ebenfalls behandelte Soziobiologie der Geschlecher, der Familie, der Religion und der "teuren Signale" (des "Übermut-Prinzips", wie ich es für mich immer gerne nenne), muß an dieser Stelle noch ausgeklammert bleiben. Und dennoch schon so überreichlich viel Stoff zum eigenen Nach- und Weiterdenken, sowie Forschen. So muß Wissenschaft sein.

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