Sonntag, 24. Juni 2007

Protestantische Ethik = "Zornbanken"?

Die Ausführungen über die Grundlagen der protestantischen Ethik im gestrigen Beitrag (St. gen.) bedürften sicherlich noch sehr vieler weiterer Erläuterungen. Das Werk von Max Weber "Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" bildet das Grundlagen-Werk einer ganzen Wissenschaft, nämlich der Soziologie. Aber es soll im folgenden wenigstens in Andeutungen und Umrissen die These vertreten und erläutert werden, daß der Kern der "protestantischen Ethik" eigentlich gar kein Monotheismus mehr ist, mit Bibelgläubigkeit eigentlich gar nicht so viel zu tun hat. Vielleicht ist diese Erkenntnis der entscheidende geistige Fortschritt, der durch gründlichere, moderne Bibel-Übersetzungen erreicht wird oder werden kann.

Die Ethik des Alten Testamtentes und auch weiter Teile des Neuen Testamentes beinhalten fast immer ein Geben und Nehmen zwischen Gott und den Menschen, bzw. zwischen Gott und seinem auserwählten Volk, den Juden. Und zwar nicht so wie in günstigster Weise - z.B. - in liebenden, familiären Beziehungen angestrebt, daß man über weite Strecken auch dann gibt, wenn man nichts zurück erhält. Sondern es ist nur allzu oft der klassische Gegenseitigkeits-Altruismus des Robert Trivers: tit for tat. Tust Du dies, tue ich jenes. Tust Du jenes, tue ich dies. Ein solcher "Altruismus" ist sehr täuschungsanfällig. (William D. Hamilton, der gute Freund von Robert Trivers, hat sich sogar geweigert, diese Form der Kooperation echten Altruismus zu nennen.) Da diese Form der Kooperation sehr täuschungsanfällig ist, reagiert man in solchen Kooperationsformen auch oft um so boshafter, wenn man selbst getäuscht wird: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Rache. Vergeltung.

"Tit for tat" = mittelalterlicher Geist?

Es ist dies also die sogenannte "Lohn-Straf-Moral" der Bibel. Man soll Gutes tun, "damit" man nicht bestraft wird. Man soll Böses unterlassen, "damit" man - ebenfalls nicht bestraft wird. Man soll Gutes auch deshalb tun, damit man mit vielen irdischen und überirdischen Gütern gesegnet wird (langes Leben, viele Kinder und Enkel, "himmlische" Belohnungen). Tut man es nicht, werden Plagen und Unheil über einen kommen. Im schlimmsten Falle das Fegefeuer und die Hölle.

Auch die Lehren des Jesus Christus beinhalten viele solcher "Kuhhändel" mit Gott:
"Selig sind die Friedfertigen, denn ihrer ist das Himmelreich."
Wären sie denn auch friedfertig, wenn sie dadurch nicht in den Himmel kämen? Es ist ganz klar, daß der ganze Geist des mittelalterlichen - und auch heute noch des katholischen - Menschen (des orthodox-jüdischen wahrscheinlich auch) "durchtränkt" ist von diesem "Kuhhandel". Viele Dichter der Neuzeit haben sich ja darüber lustig gemacht. Zum Beispiel Josef Weinheber in seinem Gedichtband "Wien wörtlich":
Vorher - nachher

Heiliger Thaddäus, hilf mir, ich bitt,
die Kerzen bring ich das nächstemal mit.
- -
Du hast geholfen. Ich dank dir sehr.
Jetzt brauchst doch wohl keine Kerzen mehr.
Und auch so mancher jüdische Witz kann sich ja kräftig lustig machen darüber, wie man dem lieben Gott ein Schnippchen schlägt in den vielen Kuhhändeln mit ihm.

Das Gute tun um seiner selbst willen

Mit der protestantischen Ethik Martin Luthers zog aber nun ein neuer - man möchte sagen: sehr viel freierer - Geist in Europa ein. Mit Luther zumindest in den ersten Anfängen. Die Freiheit eines neuen "Christenmenschen". Und die weitere Kulturentwicklung baute diese ersten Anfänge dann immer weiter aus - vor allem im protestantischen Europa. Man tut das Gute um seiner selbst willen.

"Man muß das Gute tun, damit ist in der Welt sei," sagt die böhmische Dichterin Marie von Ebner-Eschenbach. Damit geht eine unwahrscheinliche Befreiung in der persönlichen Moral einher. Auch in der persönlichen Entwicklung jedes einzelnen Menschen wird das immer wieder eine Rolle spielen: Versucht man ein guter Mensch zu sein, "um" dadurch wohlgelitten zu sein unter seinen Freunden, in der Gesellschaft? "Um" dadurch wirtschaftlichen, beruflichen Erfolg zu haben? Oder ist Moral etwas, ist "Gutsein" etwas, das - letztlich - aus ganz anderen Regionen herstammt als aus solchen - oft doch nur allzu trivialen - "Kausal-Beziehungen"?

Oder Theodor Storm:
Der eine fragt: Was kommt danach?
Der andre fragt nur: Ist es recht?
Und also unterscheidet sich
Der Freie von dem Knecht.
Muß man "militant" werden?

Das Thema sollte nur angesprochen werden, weil man sich selbst und anderen erläutern muß, warum man plötzlich so unruhig wird, wenn man sich diesen großen Umbruch in der europäischen Geistesgeschichte wieder einmal aufs Neue ins Bewußtsein ruft. Auch die Moral des 20. Jahrhunderts ist - insbesondere in der Politik und in der "Geschichtspolitik" - sehr stark von "Lohn-Straf-Moral" durchtränkt. Deutschland verlor ein Drittel seines Territoriums, "weil" es das und das vorher getan hatte, ein Viertel der Deutschen verloren ihre Heimat, "weil" Deutschland das und das vorher getan hatte (an Kriegen schuld war, die falsche Regierung gewählt hatte, verbrecherische Befehle ausgeführt hatte). Die Städte Japans und Deutschlands wurden in Grund und Boden bombardiert, "weil" sie zur (damaligen) "Achse des Bösen" gehörten.

Hitler und Stalin haben auch moralisch gar nicht etwa "freier" gehandelt als die genannten westlichen, "rächenden" Regierungen. Die Frage ist nur: Wir bringen demokratisch gewählten Regierungen oft - nur schon weil sie demokratisch gewählt wurden - in diesen Zusammenhängen einen Vertrauenbonus entgegen, den sie gar nicht verdient haben. Das wird auch von dem politische Kabarettisten Volker Pispers gut herausgearbeitet, der von der Terrororganisation des CIA spricht. (--> St. gen.) Auch George Orwell hat das einigermaßen richtig durchschaut. Ist es denn heute wesentlich anders geworden in der internationalen Politik und in den Beziehungen zwischen Völkern und Religionen als im 20. Jahrhundert? Ein ständiges "Geben" und "Nehmen" - aber auf moralisch oft niedrigstem, abscheulichsten Niveau: "Wir werden sie jagen." "Wir holen sie aus ihren Löchern heraus". Man spricht Menschen und Menschengruppen schon mit einem bestimmten Tonfall in der Sprache grundlegende Menschenrechte ab.

Von Seiten der gegenwärtigen amerikanischen Regierung geschieht das oft nur allzu unverhohlen. Von Seiten der russischen Regierung noch unverhohlener. Und auch der deutsche Verteidigungsminister beginnt neuerdings von "feigen" Vaterlands- und Religionsverteidigern in Afghanistan zu sprechen, da - offenbar - nur der Mensch "gut" und "mutig" ist, der auf der richtigen Seite steht. Ob es wesentlich weniger feige ist, eine Granate auf ein Haus abzufeuern, von dem man nicht weiß, wer da eigentlich drin ist (Zivilisten oder Taliban-Kämpfer), scheint sich dann der deutsche Bundesverteidigungsminister gar nicht mehr zu fragen. Es sind das alles so niedrige und schlechte Mentalitäten, Denk- und Verhaltensweisen, daß man - ja - zornig werden kann. Nein, wahrscheinlich muß. Daß man selbst - - - "unruhig" wird. Nein: werden muß.

"Zorn"-Banken oder protestantische Ethik?

Aber es wäre zu hoffen, daß das dann eine "Unruhe" in Richtung eines anderen Geistes ist, als jenes Geben und Nehmen, jene "Zorn"-Banken, von denen Peter Sloterdijk spricht, jener "Handel" der Bösen mit den noch Böseren. Man kann auch schon schlicht und allein deshalb "unruhig" werden, weil man heraus möchte aus dieser "Kleinmoral", aus diesem kleingeistigen "Böse-" und "Gutsein". Diesem "andere feige nennen aber selbst nur allzu feige sein". Sei man doch böse. Aber begründe es doch nicht mit "damit" (weil andere - angeblich - böse sind) (oder: "noch" böser). Man sei böse um des Bösesein-Willens an sich. (Wenn einem das so sehr gefällt.) Aber man heuchle doch nicht, daß man böse sein müsse um eines Guten willen.

Und sei man doch gut. Aber man begründe es nicht mit "damit". Welch eine großzügige Freiheit würde daraus entstehen. In den Beziehungen zwischen Menschen, Völkern und Religionen. - Und Martin Luther war es, der den ersten Schritt in diese Richtung tat mit seinem: sola fide. Allein aus Glauben, nicht um guter Werke willen wird der Menschen Seligkeit erreicht.

Das heißt: Man soll zu allen bösen und guten Taten in seinem Leben stehen. Man soll sie nicht verleugnen. Man soll nicht feige vor ihnen davon rennen. Aber man soll auch nicht um des Schlechten willen, das man selbst früher getan hat oder das sogar Vorfahren getan haben oder das auch nur andere glauben, daß man es getan hätte, sich ewig selbst neu einschüchtern lassen. Man soll sich das nicht selbst wie in einem Kuhhandel ewig neu vorhalten.

"Gerade klare Menschen wär'n ein schönes Ziel"

Über eine solche Deutung der protestantischen Ethik findet man bei Peter Sloterdijk nichts. Sicherlich ist er sich einer solchen Deutung noch nicht bewußt geworden. Wie überhaupt selbst evangelische Theologen heute oft Mühe haben, sich und anderen den inneren Kerngehalt des Protestantismus lebendig vor Augen zu führen.

Oder ist das dieser "große Zorn", den Sloterdijk dem Achilles der Ilias zuspricht, der aber dann in der Weltgeschichte verloren gegangen sei?
Gerade klare Menschen, wär’n ein schönes Ziel,
Leute ohne Rückgrat haben wir schon zu viel.
Das sind die Abschlußzeilen eines Gedichtes von Bettina Wegner, das man in der Schule gelernt hat, und das einem mitunter in den Sinn kommt. Darum sei es an das Ende dieser Ausführungen gestellt.
Sind so kleine Hände, winzige Finger dran,
darf man nicht drauf schlagen, sie zerbrechen dann.

Sind so kleine Füße, mit so kleinen Zehen,
darf man nicht drauf treten, können sonst nicht geh’n.

Sind so kleine Augen, die noch alles sehn,
darf man nicht verbinden, könn' sie nicht verstehn.

Sind so kleine Seelen, offen und ganz frei,
darf man niemals quälen, gehn kaputt dabei.

Sind so kleine Münder, sprechen alles aus,
darf man nie verbieten, kommt sonst nichts mehr raus.

Sind so kleine Ohren, hören jeden Laut,
darf man nie zerbrüllen, werden davon taub.

Ist so kleines Rückgrat, sieht man fast noch nicht,
darf man niemals beugen, weil es sonst zerbricht!

Gerade klare Menschen, wär’n ein schönes Ziel,
Leute ohne Rückgrat haben wir schon zu viel.

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