Freitag, 22. Juni 2007

ADHS: Struktur und Lebensraum für Kinder statt Reizüberflutung

ADHS scheint eine Verhaltens-Auffälligkeit zu sein, die wie wenige andere auf die eigentlichen Probleme aufmerksam macht, die es in unserer Gesellschaft gibt: Zu wenig Struktur für Kinder. Zu wenig gefahrlosen Platz für Kinder zum Toben. Zu viel Fernsehen. Zu viel Reizüberflutung. Und - vielleicht - zu viele Medikamente. Die letztere Problematik ist der Ausgangspunkt eines spannenden Interviews, das die auch sonst von mir sehr geschätzte Journalistin Brigitta vom Lehn mit dem Neurobiologen Gerald Hüther geführt hat. (Welt) Darin sagt Hüther gleich zu Anfang auf die Frage "Wie entsteht ADHS?" (alle Hervorhebungen im folgenden durch mich, I.B.):

Wenn in der äußeren Welt Struktur gebende Elemente fehlen, kann auch im Gehirn keine Struktur aufgebaut werden. Das ist heute ein riesiges Problem, denn unsere Welt hat viel an Struktur verloren. Das hängt mit der Hektik des modernen Alltags zusammen, mit Problemen, die jungen Familien zu schaffen machen wie Partnerschaftskonflikte oder mit Karrieren, die aufzubauen sind. Kinder wachsen heute in eine Welt hinein, in der sehr viel durcheinander gerät, wenig Strukturen bietet. Besonders schwierig ist dies für Kinder, die mehr Strukturen brauchen als andere, die so genannten ADHS-Kinder.

An diese Worte wird man doch wohl gleich die Frage anschließen dürfen: Geben Kinderkrippen Kindern mehr oder weniger "Struktur", innere Ruhe als die traditionelle Eltern-Kind-Bindung? Geben arbeitende Mütter und Väter ihren Kindern mehr Struktur oder solche, die bei ihren Kindern zu Hause bleiben? Auf die Frage "Wie ist man früher mit „Zappelphilippen“ umgegangen?" sagt Hüther etwas, was mir sehr treffend erscheint:

Die Kinder sind früher nicht aufgefallen, weil die Strukturen so hart waren, dass sie keine anderen Möglichkeiten hatten, als sich diesen Strukturen anzupassen. Sie sind verprügelt worden, wenn sie sich nicht richtig verhalten haben. Wir wünschen uns aber heute keine Abrichtung von Kindern mehr mit Strafen und dergleichen.

Hüther bestreitet im weiteren, daß ADHS vererbbar ist. Das erstaunt mich nicht wenig, denn die erst vor kurzem von mir konsultierte Studie (Studium generale) geht ganz selbstverständlich davon aus. Aber richtig wird es wieder sein, wenn Hüther auf die Frage, ob Pharmazie zur Behandlung von ADHS der richtige Weg sei, antwortet:

Das ist eine Notlösung. Aber wir machen in dieser Gesellschaft ja viele Notlösungen.

Brigitta vom Lehn fragt energisch nach, das gefällt mir. So sollte Journalismus sein. Hintergrund ist vielleicht auch eine heftige Leser-Debatte zu früheren Beiträgen zum Thema ADHS in der "Welt". Vom Lehn fragt: Der Psychologe Wolfgang Bergmann meint, es müsste eigentlich ein Schrei durch die Öffentlichkeit gehen angesichts des hohen Methylphenidat-Konsums. Warum bleibt der Schrei aus?

Und dann fragt sie: Wer sind die Interessenten dieses falschen Modells? (- nämlich, daß ADHS deshalb [!], weil es genetisch bedingt sei [!], vornehmlich mit Ritalin behandelt werden müßte.) Und Hüther antwortet:

Den größten Nutzen ziehen die betroffenen Eltern. Sie haben ein immenses Interesse daran, dass jemand kommt, der sagt: Es ist genetisch bedingt. Es gibt schließlich nichts Schlimmeres für Eltern, als etwas falsch gemacht zu haben. Deshalb werden eine definierte Krankheit und eine entsprechende Behandlung ausdrücklich begrüßt. (...) Nicht zu vergessen die Lehrer! Viele von ihnen können mit diesen Kindern überhaupt nichts anfangen. Sie sind froh, wenn sie endlich ruhig werden, egal, womit das geschieht, und wenn dies mit einer Tablette geht, ist ihnen das auch recht.

Hüther greift auch die Wissenschaft, die Ärzte und die Pharmaindustrie an. Das ist mir zu pauschal, als daß ich es hier wiedergeben möchte. Natürlich muß man solche Möglichkeiten immer mit in Rechnung stellen. Die Leserkommentare nun - Volkes Stimme! - sagen für mich ebenfalls viel Wertvolles.

Ein Mann:

Man sollte anmerken, dass sich Kinder "früher" (also vielleicht zwei oder drei Generationen zurück) noch frei in unserer Umwelt bewegen, toben & spielen konnten. Heute werden die Kinder vor der Glotze "geparkt" und dürfen nicht mehr draußen spielen weil sie auf der Straße von Autos todgefahren werden. Wer wundert sich da, dass Kindern anfangen zu zappeln? Ich konnte meine Energie vor 35 Jahren noch mit anderen Kids beim Fußball auf der (fast Autofreien) Straße loswerden. Wo gestern Kinder spielten, parkt heute Daddys "Defender".

Eine Frau:

Kinder sollten draussen spielen um ihre Abwehrkräfte zu stärken und überschüssige Energie zu verbrennen. Ein ganz normales Kinderdasein heisst spielen, toben, dreckeln, nicht Pillen schlucken!

Ein Mann:

Ich selbst bin Betroffener und habe die Diagnose erst mit 35 erhalten. MP hilft mir, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren und die ständige innere Unruhe zu bekämpfen. Mir hat das Medikament ein neues Leben geschenkt.

Ein Mann:

Auch ich habe die Diagnose ADS nach einem wirklich langen Leidensweg und vielen Falschdiagnosen erhalten - mit 38 Jahren!
Methylphenidat hilft mir ein einem Maße, wie ich es kaum beschreiben kann.
Jemand, der nicht selbst betroffen ist bzw. keine betroffenen Kinder hat, sollte sich nicht anmaßen, derart selbstgerecht so negativ über dieses Methylphenidat zu urteilen.
Und weil Methylphenidat (z.B. Ritalin) nunmal auf einem Betäubungsmittelrezept verschrieben wird, heißt noch lange nicht, dass es ein Betäubungsmittel im Sinne von "Kinder ruhigstellen" ist.
Seit meiner ersten Ritalin-Tablette kann ich jedenfalls nachvollziehen, was sich in den Köpfen der ebenfalls betroffenen Kinder abspielt. Für alle betroffenen einer Dopaminstoffwechselstörung im Frontalhirn ist dieses Methylphenidat ein Segen.
Was allerdings auch ich nicht bezweifele, ist, dass allzuviele ADHS-Diagnosen zu leichtfertig gestellt werden und es sicher viele Falschdiagnosen gibt. Ebenso, wie es sicher viel zu wenig feste Strukturen in den Familien gibt und zuwenig Gelegenheiten für Kinder, "sich selber draußen auszuprobieren und auszutoben".
Trotzdem: Wer selber kein ADS oder ADHS hat, kann und sollte hier nur sehr zurückhaltend mitdiskutieren und Kritik an "den Pillen" am besten garnicht erst äußern. Ich kritisiere ja auch nicht die vielen Medikamente gegen andere Stoffwechselstörungen wie Diabetes oder was weiß ich.
Wenn Ärzte damals, als ich ein Kind war, und mein Eltern selber auch dafür gesorgt hätten, dass ich viel früher Ritalin bekommen hätte, wäre mich ganz ganz sicher ein sehr leidensvoller Lebensweg erspart geblieben.

Ein Mann:

Herr Hüther rennt scheinbar mit einem Heile-Heile-Gänschen-Weltbild durchs Leben.
ADS bedeutet für mich (40 jahre alt) den Umweltreizen nicht entkommen zu können. Und vieles mehr.
Jeder Mensch hat das Recht auf ein würdiges und glückliches Leben. Und das geht nicht, wenn man den ganzen Tag keine Chance hat, den Reizen zu entkommen oder sich auf irgendetwas konzentrieren kann.
Kein Arzt oder Therapeut, der nicht selbst ADS hat kann sich das vorstellen! KEINER! Auch Sie nicht, sehr geehrter Herr Hüther.

Ein Mann:

Als selbst Betroffener und ausserdem in der Elternrolle kann ich nur sagen, Herr Hüther weiss nicht wirklich, wovon er redet. Es ist das ewige dumme Vorurteil, dass wir nur die Symptome korrigieren und nicht die Ursache. Dank dieser Tabletten kann mein Sohn funktionieren und und wir kaufen ihm Zeit damit er ausreifen kann - übrigens ist die Behandlung eingebunden in ein Therapiekonzept mit Kinderpsychiatern, anerkannten Leuten auf diesem Gebiet, auch wenn wir "nur" in der Schweiz sind. Die Tabletten helfen ihm damit bestimmte Funktionen ausreifen können und er Ruhe findet vor der Reizüberflutung.

Ich muss frustriert feststellen, dass die Gesellschaft trotz hervorragender Fachleute einfach kapituliert und am schlimmsten ist für mich die Schule. Gottseidank haben wir nun eine Schule gefunden, die bereit war meinen Sohn nicht nur aufzunehmen, sondern sich auch seiner anzunehmen - keine Kuschelpädagogik, sondern klare Strukturierung, Aufbau von Konfliktfähigkeit und Eigenverantwortung.

Aber nicht jeder hat so viel Glück und es macht mich traurig, dass es offensichtlich eine Frage des Glücks und nicht der Diagnose ist.

Volkes Stimme - Gottes Stimme? ... Manchmal ....

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