Freitag, 15. Juni 2007

60 Milliarden Euro bezahlen Familien für Zigarettenautomaten und Kneipenbesuche?

Sechster und vorletzter Beitrag der Reihe "Warum Erziehungsgehalt?"

Ein recht aktueller Einstieg in die Thematik ist:
Kupferschmidt, Frank: Umverteilung und Familienpolitik. Eine empirische Analyse der Verteilungs- und Umverteilungswirkungen familienpolitischer Leistungen in Deutschland. Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 2007 (Diss. Nürnberg 2007)
Es scheint dies die aktuellste wissenschaftliche Veröffentlichung zur Thematik zu sein. In der dortigen Zusammenfassung heißt es:
"Ein Überblick über die vorhandene Literatur zu distributiven Aspekten der Familienpolitik zeigt, daß bisher keine Forschungsarbeit deren Verteilungs- und Umverteilungswirkungen in der Gesamtschau untersucht. Zudem wird immer wieder die Ermittlung des Eigenfinanzierungsanteils der Familien an der Familienpolitik angemahnt. Die vorliegende Arbeit schließt diese Lücke." (1, S. 217)
Es soll versucht werden, hier die Ergebnisse (1, S. 217ff) zu referieren.
"Die Arbeit betrachtet familienpolitische Leistungen in Höhe von insgesamt 136,4 Mrd. Euro."
Bezugsjahr hierfür ist das Jahr 2001. Darin sollen also enthalten sein alle Leistungen, die im Jahr 2001 in Deutschland für das Aufziehen von Kindern erbracht worden sind. Diese wurden erbracht

1. von den Familien selbst. Durch Betreuung (Achtung: das ist genauer zu betrachten! siehe nächster Beitrag!), durch das Finanzieren und Zubereiten von Essen, Kleidung, Unterkunft, Spielzeug, Reisekosten (usw.) für die Kinder.

Und darin sind enthalten

2. die Leistungen, die der Staat für das Aufziehen von Kindern erbringt in Deutschland. Darin sind wiederum enthalten

a) "Geldtransfers". Dazu zählen: Erziehungsgeld, Kinderkomponenten der Sozialhilfe und des Wohngelds, Unterhaltsvorschuß, sowie Ausbildungsförderung. Und es sind darin enthalten

b) "Sachtransfers". Dazu gehören: die Finanzierung von Kindergärten, Schulen, Jugendhilfe und sozialem Wohnungsbau. (Kapitel 5)

Ebenso sind eingerechnet

3. die Steuervergünstigungen für Familien (Kapitel 6). Ebenso sind eingerechnet

4. die Leistungen, die die Sozialversicherungen erbringen (Krankenversicherung, Rentenversicherung, Arbeitslosenversicherung). (Kapitel 7)

Außerdem sind einberechnet

5. die Leistungen, die Arbeitgeber erbringen (Familienzuschläge, Entgeltfortzahlung). (Kapitel 8)

All das ist enthalten, wenn formuliert wird: "Die Arbeit betrachtet familienpolitische Leistungen in Höhe von insgesamt 136,4 Mrd. Euro."

Wie hoch ist der Eigenfinanzierungsanteil der Familien?

Und nun stellt sich zunächst die wichtige Frage:
"Wie hoch ist der Eigenfinanzierungsanteil von Familien an familienpolitischen Leistungen? Der Eigenfinanzierungsanteil aller Familien beträgt je nach Berechnungsvariante zwischen 43,1 und 43,3 % und liegt damit über der Referenzgröße aus dem Fünften Familienbericht von rund 32 %."
Dazu die folgende Bemerkung: Nachdem der Fünfte Familienbericht 1994 erschienen war, war die Republik, soweit sie von ihm Kenntnis nahm, "geschockt". Vielerorts wurde im Anschluß an den Schock "vermutet", der Eigenfinanzierungsanteil sei in diesem Bericht als zu hoch berechnet worden. Die Sachverständigen-Kommission von 2001 sagte zu diesem Thema:
"Im Gutachten wird detailliert dargestellt, daß im Rahmen des gegenwärtigen Systems der Familienförderung je nach Familientyp zwischen 48 und 66 Prozent dieser Gesamtaufwendungen, also annähernd die Hälfte bis zu zwei Dritteln direkt von den betroffenen Familien getragen werden." (2, S. XXIVf)
Und nun weiter (1, S. 220):
"Die Bruttogröße des familienpolitischen Budgets verringert sich in der Nettobetrachtung nach Abzug des Eigenfinanzierungsanteils von 136,4 Mrd. Euro auf 76,9 bis 77,5 Mrd. Euro im Bezugsjahr 2001. Dieser Betrag wird tatsächlich von Kinderlosen an Familien umverteilt, während letztere dagegen 58,8 bis 59,4 Mrd. Euro selbst zu den Kosten beitragen." (1, S. 220)
Im weiteren scheint diese Studie nun aber - leider - die derzeitige Argumentation des Familienministeriums aufgenommen zu haben, nach der die weitere Umverteilung von den Kinderlosen zu den Familien mit Kindern vornehmlich durch weitere Sachleistungen des Staates erfolgen soll, also vornehmlich in Form von Kinderkrippen. Das nennt sich - oder schimpft sich - dann: "erwerbsorientierte Familienpolitik". Und an anderer Stelle nennt sich das dann gar: "erwerbsorientierte, demographiefreundliche Familienpolitik".

Um wieviel würde denn eigentlich finanzielle Ungerechtigkeit verringert durch Krippenpolitik?

Da muß einen dann zunächst interessieren: Um wieviel verschiebt sich denn insgesamt der Eigenfinanzierungsanteil der Familien, wenn das derzeit anvisierte System der Krippenbetreuung in vollem Umfang realisiert ist? Selbst das soll ja noch viele Jahre dauern. Viele Jahre, in denen die derzeitige Ungerechtigkeit, die schon Jahrzehnte lang besteht, weiterhin anhält. Und selbst wenn wir von der Argumentation ausgehen wollten, daß durch die Krippen mehr Leistungsgerechtigkeit hergestellt würde, hat der Bürger doch zunächst einmal Anspruch zu erfahren: um wieviel mehr? Es wird jetzt viele Jahre gewartet. Aber was ist denn dann eigentlich erreicht? Um wieviel verschiebt sich denn die derzeitige Ungerechtigkeit dadurch zu weniger Ungerechtigkeit?

Wieviel von den 60 Mrd. Euro würde sich denn dadurch von den Familien überhaupt zu den Kinderlosen verschieben? Und wenn ein Rest verbleibt - was doch sicherlich der Fall ist: Wie gedenkt die Familienministerin, den Restbetrag Ungerechtigkeit zu beseitigen? Will heißen: Besteht ein Gesamtkonzept in Fragen der Familienpolitik oder wird weitergewurstelt wie seit Jahrzehnten? (Von Adenauers "Kinder bekommen die Leute immer" bis zu Blüms "Die Renten sind sicher" ...) Das werden doch die Familien und jene, die etwaig noch Familie gründen wollen, können, erfahren dürfen? (Und auch ohne sich dem Vorwurf der Familienministerin aussetzen zu müssen, man wolle mehr Geld für Zigarettenautomaten und Kneipenbesuche haben.)

Die Gedanken des Frank Kupferschmidt (1) und anderer Fachleute zur Thematik müssen dazu noch weiter verfolgt werden. (siehe St. gen.)

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1. Kupferschmidt, Frank: Umverteilung und Familienpolitik. Eine empirische Analyse der Verteilungs- und Umverteilungswirkungen familienpolitischer Leistungen in Deutschland. Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 2007 (Diss. Nürnberg 2007)
2. Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen: Gerechtigkeit für Familien. Zur Begründung und Weiterentwicklung des Familienlasten- und Familienleistungsausgleichs. Schriftenreihe des Bundesministeriums für Familie, Band 202, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2001

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