Dienstag, 29. Mai 2007

Jüngste Humanevolution - eine Kolumne der "Berliner Morgenpost"

Ich entdecke erst jetzt in der "Berliner Morgenpost" eine Evolutions-Kolumne von Ulli Kulke mit - seit Mai 2006 - inzwischen 26 Artikeln. Sie weist sehr viele parallele Erkenntnis-Interessen zu "Studium generale" auf. (Berliner Morgenpost) Denn auch hier geht es um "jüngste Humanevolution" und um die Frage, ob und wie die Evolution weitergehen wird. Diese Dinge sind ja in der deutschen Öffentlichkeit bislang noch erstaunlich wenig thematisiert worden, obwohl ein inzwischen reicher Fundus von Forschungsergebnissen völlig neue Sichtweisen eröffnet hat.

Ist die Evolution zu Ende?

Ulli Kulke - der Name deutet auf Berliner Urgestein - geht die Sache recht locker, essayistisch an. Um überhaupt einmal einen Eindruck von dem Umfang der Neuerkenntnisse zu bekommen, ist diese Reihe sicher gut geeignet. Sie beginnt mit dem Titel: "Alles auf dem Prüfstand: Vom Adamsapfel bis zum Zahn":

Am 14. Mai 1856, heute vor 150 Jahren, begann Charles Darwin seine Arbeit "Natural Selection" - die Grundlage seiner Evolutionstheorie. Sie veränderte das Selbstverständnis der Menschheit. Keinen Schöpfungsakt gab es demnach, der mal eben Adam und Eva schuf. Es war ein unendlich langer Prozeß: Vom primitiven Einzeller über Haikonella, den kleinen Fisch in unserem Stammbaum, bis zu Franz Beckenbauer.

So aber wie eben dieser 1990 schon das Ende der Entwicklung im Fußball verkündete, weil er damals die Deutschen auf den Gipfel geführt hatte, so wie Francis Fukuyama gar schon das Ende der Geschichte ausrief - so schienen wir Charles Darwin auch nur im Blick zurück zu sehen. Als wäre die Evolution mit der Entwicklung zur Menschheit zu ihrer Erfüllung gelangt, am Ziel. Als wäre Homo sapiens doch die Krönung der Schöpfung, als stimme doch, insoweit jedenfalls, was uns die Genesis aus der Bibel erzählt.

Kurz vor dem Ende eines Jahrtausends konnte schon mal unterschwellig die Stimmung vom großen Erreichten aufkommen, vom nahen Ziel. Wie wir überhaupt uns oft bei dem Gedanken ertappen, daß der Lauf der Dinge in der Vergangenheit sehr dynamisch war, aber jetzt doch bitte wohl alles so bleiben wird, wie es ist. Kontinentalverschiebung, dramatischer Klimawandel, Eiszeiten, die großen Völkerwanderungen, ja auch die Abfolge von Friedensepochen und Kriegsperioden - alles nur Geschichte? Das wäre ein Trugschluß. Unser Planet ist ein dynamisches System, das Leben auf ihr erst recht. Alles geht weiter, dessen sollten wir jetzt, da ein neues Jahrtausend angebrochen ist, erst recht gewahr sein. Wie die Kontinentalverschiebung und auch das Weltklima sich weiter entwickeln, so auch das Leben, unsere Biologie. Langsam, sehr langsam, gewiß, aber deswegen müssen wir nur genauer hinsehen.

In der Kolumne "Fragen an die Evolution", die mit der heutigen Ausgabe startet, wollen wir diesen einen Aspekt unserer dynamischen Welt näher betrachten: Wir wollen den überraschendsten Dingen nachgehen, was unsere Vergangenheit und Zukunft angeht. Wo kommen wir her, wo gehen wir hin? ... Bis nächste Woche, da geht's dann richtig los. (Berliner Morgenpost)

Und der nächste (der zweite) Artikel titelt: "Ein steiler Zahn ist nicht mehr so sexy, wie er mal war." Es geht um den Trend zu grazileren Kiefern und kleineren Zähnen auf dem evolutionären Weg vom Schimpansen bis zu heutigen und künftigen Menschen vornehmlich durch geschlechtliche Zuchtwahl. (- Dabei haben einige Frauen meine Eckzähne schon sehr attraktiv gefunden! - Hm! -?) (Berliner Morgenpost)

Jüngste Intelligenz-Evolution

Hier nun Ausschnitte aus dem nächsten Artikel (Nummer 3) zur Intelligenz-Evolution: Wie stehen eigentlich unsere Chancen, noch klüger zu werden? (...) Bruce Lahn aus Chicago fand kürzlich durch Analysen der Erbanlagen bei verschiedensten Ethnien heraus, daß sich wahrscheinlich vor etwa 37 000 Jahren ein wichtiger Teil unseres Bauplanes stark veränderte. Microcephalin, ein Gen, das die Hirnentwicklung steuert, soll in jenen Jahren einen enormen Bedeutungszuwachs erfahren haben. Der neue Bauplan verbesserte nicht nur die Gehirnleistung, er bescherte den betroffenen Menschen auch mehr Nachkommen als den übrigen. 70 Prozent der Menschheit sollen nach ihm geschaffen sein. Das Frappante an Lahns Studie: Etwa zu dem Zeitpunkt, auf den der Forscher die genetische Mutation datiert, vollzog die Menschheit in der Tat große Sprünge, man entdeckte den Sinn fürs Musische: Malereien entstanden, Skulpturen, andere Kunstwerke.

Lahn kam noch einer zweiten Veränderung bei den menschlichen Erbanlagen auf die Spur, beim sogenannten "ASPM"-Gen, ebenfalls wichtig für den Aufbau des Gehirns. Vor etwa 5800 Jahren. Also etwa zur Zeit der neolithischen Revolution, als der Mensch Ackerbau und Viehzucht, die Schrift, das Rad erfand. Die ASPM-Variante hat sich nach Lahns Erkenntnissen allerdings nicht so weit verbreitet. Sie fand sich in 50 Prozent aller europäischen und asiatischen Blutproben - nicht aber bei den afrikanischen, und nur sehr selten bei der Urbevölkerung Amerikas. Eine politisch inkorrekte Verteilung - aus der allerdings keine voreiligen Schlüsse gezogen werden sollten: Im Blut der Papua aus Neuguinea fand sich das moderne ASPM-Gen sogar in 60 Prozent aller Proben. (Berliner Morgenpost)

Ist der Mensch ein Zufallsprodukt der Evolution?

Text 4: "Warum wir immer besser sehen, aber immer schlechter riechen können." (Berliner Morgenpost) Text 5: "Warum wir sprechen können, aber beim Biertrinken schweigen müssen." (Berliner Morgenpost) Na, und so weiter. Text 19 kehrt zu einer Grundsatzfrage zurück: "Ist der Mensch eigentlich ein Zufallsprodukt?" Hier referiert Kulke die neuen Gedanken des britischen Paläontologen Simon Conway Morris ("Life's Solution - Inevitable Humans in a Lonely Universe", 2003):

Einer Frage sind wir in dieser Kolumne noch gar nicht nachgegangen, obwohl viele sie ja für die allerwichtigste halten: Ist das eigentlich alles nur großer Zufall, dass die Evolution Pflanze und Tier, und schließlich den Menschen, so wie er heute lebt, hervorbrachte? Liefe es genauso, wenn wir alles noch einmal von vorn beginnen würden?

Wir, und auch Säugetiere und Vögel, sind nicht zuletzt das Produkt gewaltiger Erdkatastrophen. Vulkanausbrüche, die die Erde fast für Äonen verdunkelten, Meteoriten-Einschläge, globale Eiszeiten. Erdachse, Magnetfeld, Umlaufbahn - alles ist durchgeschüttelt, nichts ist mehr so wie einst im Kambrium. Und so wurden die Karten für das Glücksspiel Evolution immer wieder neu gemischt. Ein Armageddon ließ die Saurier entstehen, das nächste sie wieder verschwinden - und Platz schaffen für die Säugetiere. Dagmar Röhrlich schildert uns all dies so farbenfroh in ihrem neuen Buch "Evolution auf der Achterbahn".

Also doch alles Zufall? Wäre der Wind damals von Ost und nicht von West gekommen, befänden wir uns heute vielleicht im Stadium der Mikroben oder des Basaltklumpens? Ganz so beliebig ist es nun doch nicht verlaufen bei der Menschwerdung des Steins. Dazu gibt es zu viele parallele Entwicklungen: "Konvergenzen", aus völlig unterschiedlichen Herkünften. Komplett isoliert voneinander, lange nachdem die verwandtschaftlichen Bande gekappt waren, haben sich zum Beispiel bei den Insekten wie bei den Säugern die Augen parallel herausgebildet. Und zwar jeweils nach den besonderen Bedürfnissen: Die Fliege guckt schneller, der Mensch dafür räumlich und weiter. Auch der Oktopus hat sich seine Augen unabhängig von allen anderen beigebracht. Und obwohl sie nicht nur unverwandt, sondern nach geradezu gegensätzlichen Bauplänen konstruiert sind, haben sich beim Maulwurf mit seinem inwendigen genau wie bei der Maulwurfsgrille mit ihrem äußeren Skelett die Schaufeln herausgebildet. Einfach, weil beide sie brauchen in ihrem Untergrund.

Auch die unterschiedlichsten Tiere, die heute im Wasser leben, sind allesamt mit sinnvollen Fortbewegungswerkzeugen ausgestattet, unabhängig davon, ob sie schon immer im Ozean lebten oder ihre Extremitäten erst auf dem Land für die dortigen Bedingungen entwickelten und später, nach ihrem langen Marsch ins Wasser, umrüsten mussten.

Jeder einzelne Schritt in der Evolution mag eine zufällige Mutation sein. Wenn aber die Evolution Augen, die zu den diffizilsten Organen überhaupt gehören, an mehreren Orten, zu unterschiedlichen Zeiten in höchstverschiedenen Kreaturen erfand, so kann man ihr eine gewisse Zielorientiertheit wohl kaum absprechen.

Dennoch bleibt die Frage offen, ob unbedingt alles auf den Menschen, auf Intelligenz, hinauslaufen musste. Da sind wir nämlich ziemlich einzigartig. Frühere Theorien, dass sich der moderne Homo sapiens an mehr als einer Stelle gleichzeitig herausmendelte, haben sich inzwischen als unhaltbar erwiesen. Wir hatten nur eine Chance, aber wir haben sie genutzt. (Berliner Morgenpost)

Die Evolution der Haarfarbe

(Text 21) ... Gewiss: blonde und rote Haare vererben sich rezessiv. Ist ein Elternteil blond, der andere schwarz, so setzt sich beim Kind fast immer das schwarze Element durch. Trotzdem können in seinen Erbanlagen die Blond-Gene vorhanden bleiben, so dass es sogar möglich ist, dass auch mal zwei schwarzhaarige ein hellhaariges Kind bekommen, heute, morgen, oder in tausend Jahren.

Früher war es dunkel um unseren Kopf, allüberall. Vor etwa 11 000 Jahren aber, zum Ende der letzten kleinen Eiszeit, irgendwo im nördlicheren Europa, bei irgend einem Menschen, muss es passiert sein: Die Mutation des Erbgutes, nach der sich die Produktion des Farbpigmentes Phäomelanin in die Körperchemie eingeschlichen hat. Der Stoff, aus dem Blondinen gemacht werden. Wenn wir den Genforschern glauben dürfen, so war dies zufällig zu einer Zeit, da die Großwildjagd immer gefährlicher oder die Nahrung für die so hungrigen Herren der Schöpfung immer knapper wurde - es gab jedenfalls nur noch wenige Männer. Die wenigen Überlebenden hatten deshalb für die Paarung in ihren Höhlen eine Vielzahl von Frauen zur Auswahl - und suchten sich zielstrebig die Blondinen. Evolutionsforscher sehen in so einer Ungleichheit der Geschlechter einen starken "Selektionsdruck", bei dem sich seltene, aber sexuell attraktive Merkmale sehr schnell durchsetzen können.

Warum die Blondinen besser ankamen als die Brünetten oder die Schwarzen - darüber können die Evolutionsforscher nur rätseln. Studien deuten darauf hin, dass blonde Frauen im Durchschnitt einen höhere Östrogenspiegel haben, der die Fruchtbarkeit fördert. Dies würde bedeuten, dass nicht nur blonde Frauen selbst, sondern auch diejenigen, die eine Vorliebe für dieselben hegen, mehr Nachkommen in die Welt setzen als andere - ergo setzt sich beides durch. Mit einem gewissen Handicap allerdings, weil sich der blonde Faktor eben nur rezessiv vererbt.

Dies könnte eine Ursache dafür sein, dass sich die blonde Haarpracht evolutionär doch nur in einem kleinen Teil der Welt durchsetzen konnte, in Mittel-, West- und Nordeuropa. Die Blonden in Nordamerika und Südafrika oder Australien stammen alle von dort her ab. Und die vielen Blonden, die in einer Bergregion im Libanon wohnen, sind Nachfahren der Kreuzfahrer.

Ähnlich dürfte es sich mit den Chachapoyas in Südamerika verhalten, einem blonden Volk, das einst von den Inkas unterworfen wurde. Bei ihnen, so vermuten jedenfalls einige Forscher, handelte es sich um Nachfahren von Einwanderern, die lange vor Kolumbus nach Amerika kamen. (Berliner Morgenpost)

Weitere jüngste Selektionsereignisse in der Humanevolution

Im Februar endete die Artikel-Serie. Eine der letzten Fragen lautete: Was sind unsere neuesten evolutionären Errungenschaften?

Beim Thema Evolution denken wir an Zeiträume von Hunderttausenden, oder Millionen von Jahren, gewiss nicht an die jüngste Vergangenheit. Und doch hat sich selbst in den letzten zehntausend Jahren noch einiges getan in unserem Erbgut. Der Mikrobiologe Jonathan Pritchard von der Universität Chicago hat herausgefunden, dass sich seither noch rund 700 Genregionen verändert haben, also durchaus in historischer Zeit, im Holozän, der "Jetztzeit". 8000 v. Chr. - das war in etwa das Datum, da der Mensch das Paddel und die Keramik erfand. Pritchard geht zum Beispiel davon aus, dass alle Europäer noch bis vor 7000 Jahren die dunkle Haut hatten, die die eingewanderten Vorfahren aus Afrika mitgebracht hatten, damit sie besser vor der tropischen Sonneneinstrahlung geschützt waren.

Doch erfand der Mensch damals nicht nur Bootszubehör und Töpfe, er stellte vielmehr nach und nach sein ganzes Leben um: Vom Dasein als Jäger und Sammler verwandelte er sich im Zuge der Neolithischen Revolution, je nach Neigung, in einen Ackerbauern oder Viehzüchter. Das brachte ihm einerseits Gewinn ein - er säte, erntete und wusste hinterher, was er sich in den Mund tat. Das führte andererseits zu einem Verlust: Der Geruchssinn, den er zuvor zur Prüfung von wilden Früchten und erlegten Tieren benötigte, büßte seine Bedeutung und deshalb auch seine Schärfe ein. Fast zwei Drittel seiner Riechgene verlor Homo sapiens seither. Mit der Vererbung der Sehkraft lief es ähnlich, Kurzsichtigkeit erfasste immer mehr Menschen, was für Jäger und Sammler tödlich gewesen wäre. Weder Beute noch Angreifer hätten sie in der Wildnis erkannt, doch die Bedeutung dieses Auslesemechanismus' ließ nach.

Die Tierhaltung brachte andere Selektionskriterien mit sich, weil durch das Vieh im Haushalt die Seuchengefahr drastisch anstieg. Gerade bei den Gensequenzen, die Forscher mit dem Immunsystem in Verbindung bringen, stießen sie bei 10 000 Jahre alten Funden auf eine ganze Reihe von Änderungen, die sie allerdings noch nicht vollständig zuordnen können.

Immerhin gehen sie davon aus, dass die Veränderung des "Globin-Gens" um diese Zeit damit zusammenhing, dass sich die Menschen dadurch vor Malaria schützen konnten, oder eben - beim Ausbleiben dieser Mutation - früh starben und so ihr Erbgut nicht mehr weitergeben konnten. Ebenso vermuten Wissenschaftler, dass in dieser Ära ein Gendefekt, der keine Schwierigkeiten bereitete und sich deshalb problemlos durchsetzten konnte, eine Abwehr gegen die Pest oder eine ähnliche Krankheit aufbaute, durch eine Veränderung, die die Produktion eines bestimmten Immunproteins betraf. Pest oder anderes - mit aktuellen Geißeln können die Forscher diesen Dreh des Abwehrsystems nicht in Verbindung bringen. Sie vermuten aber, dass es sich um eine heftige Seuche gehandelt haben muss, vor der die Mutation damals schützte, denn noch heute hat jeder fünfte Europäer diesen "Defekt" in seinen Erbanlagen, ohne dass er evolutionären Sinn ergäbe. Das könnte sich ändern. Denn zufällig sind heute die Träger dieses veränderten Protein-Gens - vor allem Europäer - resistent gegen HIV. (Berliner Morgenpost)

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