Freitag, 13. April 2007

Stirnhirn-Evolution beim Menschen

In einem früheren Beitrag (Studium generale) war von einer neuen These zur Evolution des Stirnhirns bei Nordeuropäern in den letzten etwa 600 Jahren die Rede. Nach dieser sei das Stirnhirn in Großbritannien in den letzten 600 Jahren um eineinhalb Zentimeter höher geworden, was mit Intelligenz-Evolution in Zusammenhang gesetzt wird. Nun scheint das ein Bereich zu sein (ein physisches Maß), das noch wenig vergleichend in der Physischen Anthropologie untersucht worden ist. Über die Evolution der absoluten Gehirngröße ist in den letzten Jahrzehnten sehr umfangreich geforscht worden. Und man hat dabei herausgefunden, daß es eine geringe Korrelation von 0,4 zwischen Gehirngröße und angeborener Intelligenz beim Menschen gibt. Es gibt nun vielerseits Bemühungen, jene Gehirnbereiche beim Menschen genauer zu lokalisieren, die enger mit angeborener Intelligenz korrelieren.

Zum Beispiel diese Arbeit: Miller, Geoffrey F., & Penke, Lars (2007). The evolution of human intelligence and the coefficient of additive genetic variance in human brain size. Intelligence, 32 (2), 97-114. (As also reported in Science (2006, Vol. 312, p. 1867)

Da ich einen kompetenten Physischen Anthropologen unter meine Bekanntschaft zähle, habe ich ihn mal um ein Urteil zu dieser neuen Studie über die Stirnhirn-Evolution gebeten. Und er hat mir erlaubt, sie hier einzustellen. Aus ihr geht für mich hervor, daß diese Studie für sich noch nicht sehr viel Aussagekraft hat und durch viele weitere vergleichende Studien ergänzt werden müßte, bevor ihre These stärkere Überzeugungskraft bekommt. Daß übrigens eine hohe Stirn ein eher kindliches und weibliches Merkmal ist, wie er schreibt, ist ja auch überraschend.

... So, jetzt habe ich den Aufsatz der britischen Dentisten gelesen und Du sollst meine Stellungnahme dazu bekommen. Kurz: Die Studie weist so grundsätzliche Qualitätsmängel auf, daß aus ihr keinerlei Schlüsse zu ziehen sind.

1. Bei den beiden historischen Stichproben (Pesttote und Opfer des Untergangs der Mary Rose) handelt es sich um extreme Erhaltungsauslesen. Bei den Pesttoten haben die Dentisten sich die 30 besterhaltenen Schädel von 600 (!) herausgesucht. Natürlich haben die robusten Schädel eine bessere Chance unversehrt erhalten zu bleiben als die grazilen, dünnwandigen. Bei den Opfern der Mary Rose sind es 54 von 179 Schädeln.

Die beiden abgebildeten Schädel sind entsprechend sehr robust, der zweite von der Mary Rose ist außerdem extrem niedriggesichtig. Die Bevölkerung der britischen Inseln ist seit dem Neolithikum sehr schmalgesichtig, der Schädel ist also absolut nicht repräsentativ.

2. Die Untersucher haben die Geschlechtsunterschiede nicht berücksichtigt. Die Daten werden überhaupt nicht nach Geschlecht unterschieden. Dafür wird aber mitgeteilt, daß es sich bei den Opfern der Mary Rose mit einer Ausnahme nur um Männer handelt. Daß die robuster sind als Frauen, ist natürlich nicht überraschend.

3. Sind sozialanthropologische Unterschiede nicht berücksichtigt worden. Die Matrosen der englischen Flotte gehörten bekanntlich der Unterschicht an und waren oft zwangsverpflichtete Kriminelle.

Daß eine Erhaltungsauslese von vorwiegend männlichen und der Unterschicht angehörigen Schädeln robuster und niedrigstirniger ist als eine repräsentative moderne Stichprobe, ist also nicht überraschend. Schlüsse auf eine Evolution des Gehirns in den letzten Jahrhunderten kann man daraus absolut nicht ziehen.

Intuitiv würde ich Dir damit Recht geben, daß die Stirnen im Lauf der europäischen Geschichte (und wohl nur in den Oberschichten) höher geworden sind. Das ergibt sich schon daraus, daß die Gesichter graziler geworden sind. Mit der Grazilisierung ist auch eine pädomorphe und feminine Tendenz verbunden. Die besonders robusten Individuen sind im biologischen Sinn besonders erwachsen und besonders männlich. Eine hohe und runde Stirn ist ein kindliches und feminines Merkmal.

Die Grazilisierung des Gesichts ist wohl zum großen Teil eine Folge der veränderten Lebensweise. Wir zerkleinern unser Essen mit der Gabel und beissen nicht mehr das Brot und das Fleisch mit den Vorderzähen. Der verminderte Druck der Muskeln auf den Kiefer und Gesichtsschädel führt zu einer swchwächeren Ausbildung der entsprechenden Knochen. So haben wir ja alle einen Überbiß, d.h. einen verkürzten Unterkiefer. Das ist in Europa erst seit dem 18. Jahrhundert so und liegt an der Einführung der Gabel (Loring Brace).

Die seit der Altsteinzeit beobachtbare Grazilisierung hat sicher auch selektive (also genetische) Ursachen. Es besteht nicht mehr ein so starker Selektionsdruck in Richtung Robustizität. Heute überleben auch die zarteren Kinder und feminineren Männer. Wenn das auch die Intelligenteren sind, dann ist die Steigerung der Intelligenz ein Nebeneffekt. Die Mainzer Anthropologin Ilse Schwidetzky hat ja tatsächlich so argumentiert, daß die Grazlisierung im Neolithikum auf einem Vorteil der intelligenteren grazileren Individuen beruht (es besteht eine positive Korrelation zwischen Intelligenz und Grazilität in der heutigen Bevölkerung, konkret bei westfälischen Schulkindern).

Man müßte an einem umfangreichen Datenmaterial mal überprüfen, ob tatsächlich die Stirnen höher geworden sind. Leider gehört zu den üblichen Datensammlungen kein entsprechendes Maß. Die Stirnhöhe kann man nur mit schwer zu nehmenden und daher nur selten berücksichtigten Maßen (mit großem Beobachterfehler) messen.

Ilse Schwidetzky hat einmal überprüft, ob es eine Zunahme der Schädelkapazität auch noch nach der Altsteinzeit gegeben hat. Sie konnte das für Westeuropa bestätigen, während es in Osteuropa eher den umgekehrten Trend gibt. Einen negativen Trend hat auch Henneberg in Südafrika gefunden. Übrigens ist die geographische Verteilung der Schädelhöhe in Europa seit dem Neolithikum ziemlich gleich geblieben, nämlich in Westeuropa niedrig und in Osteuropa hoch (Bertil Lundman). Daraus kann man sicher nicht schließen, daß die Osteuropäer intelligenter sind.

Übrigens beruft sich auch Georg W. Oesterdiekhoff mit seiner entwicklungspsychologischen Theorie auf die von Dir genannte Studie. Und zwar meint er, daß die Zunahme der Größe des Hirnschädels eine Folge der kulturell bedingten Zunahme der Intelligenz sei. Auch das ist nicht auszuschließen.

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