Samstag, 21. Januar 2023

Die antiken Griechen - 22 % Steppengenetik BIS 900 v. Ztr.

Unser Bild zur Entstehung der antik-griechischen Kultur wird noch einmal über den Haufen geworfen
- Noch einmal ist deutlicheres Umdenken gefordert
 
Dort an den Ufern, unter den Bäumen
Ionias, in Ebenen des Kaysters,
Wo Kraniche, des Äthers froh,
Umschlossen sind von fernhindämmernden Bergen,
Dort wart auch ihr, ihr Schönsten! oder pflegtet
Der Inseln, die mit Wein bekränzt,
Voll tönten von Gesang; noch andere wohnten
Am Tayget, am vielgepriesnen Hymettos,
Die blühten zuletzt; doch von
Parnassos Quell bis zu des Tmolos
Goldglänzenden Bächen erklang
Ein ewiges Lied; so rauschten
Damals die Wälder und all
Die Saitenspiele zusamt  
Von himmlischer Milde gerühret.
(aus: Hölderlin / Die Wanderung / 1807)

Seit September 2022 ist klar, daß die antiken Griechen der klassischen Zeit etwa acht Prozent Steppengenetik in sich trugen, ebenso die Thraker, ebenso die Philister (Stgen2022). 

Abb. 1: Die Fundorte der neu untersuchten Menschenfunde mit 22 % Steppen-Genetik aus der Mittleren und Späten Bronzezeit im südlichen Griechenland (G-Maps): Glyka Nera, Aidonia, Mygdalia, Tiryns, Pylos

Mit diesen acht Prozent haben sie sich in der Kolonisationszeit auch über das Mittelmeer bis nach Spanien ausgebreitet. Dieser nur sehr geringe Anteil von acht Prozent Steppengenetik bei sozusagen "dem" Paradvolk der Indogermanen durfte man sehr überraschend finden und auch als sehr bedürftig, daß dieser neuen Forschungsstand dem bisherigen Wissen ein- und zugeordnet würde. 

Damit haben wir uns in ersten Versuchen seither in mehreren Blogartikeln herumgeschlagen (Stgen2022a, b, c, d). Dabei nahmen wir zum Schluß auch auf die Deutung der antik-griechischen Kultur durch den Philosophen und Dichter Friedrich Hölderlin Bezug (Stgen2023), ein Ansatz, den wir ebenfalls noch weiter verfolgen wollen. Denn wir glauben, uns mit diesen Versuchen immer noch nur in den Anfängen der notwendigen neuen Ein- und Zuordnung zu befinden. 

Und mitten in diesem Umdenken überrumpelt uns schon wieder ein neues Forschungsergebnis, nämlich aus dem Januar 2023. Und zwar mit nicht gar so viel weniger Wucht. Zum Steppengenetik-Anteil bei den Griechen ab 2.200 v. Ztr. bis in die mykenische Zeit heißt es da nämlich (s. a. Abb. 2) (1):

Unter den Gruppen des südlichen Festlands beträgt der Steppengenetik-Herkunftsanteil im Durchschnitt 22,3 %. Damit war er beträchtlich niedriger als für Logkas im nördlichen Festland (43 bis 55 %).
Among the groups of the southern mainland, the estimated coefficients of the WES-related ancestry are overlapping (±1 s.e.) and average to 22.3% (Fig. 4a) but were substantially lower than for Logkas in the northern mainland (43–55% ± 4%). 
Daß er für die Gegend um Logkas im nördlichen Griechenland rund um den Olymp um 2.200 v. Ztr. grob um die 50 % betragen hatte, das ist seit August 2021 bekannt und hatten wir auch schon behandelt (Stgen2021).

Der Herkunftsanteil im südlichen Festland Griechenlands ab 2.200 bis 900 v. Ztr. war in der Studie vom letzten Herbst auch schon Thema (Stgen2022). Da deren thematischer Rahmen aber viel weiter war, hatten wir uns bislang noch nicht konkret genug mit den dortigen Angaben beschäftigt. (Das haben wir inzwischen in dem älteren Beitrag ergänzt und entsprechend auch in diesem Beitrag in einem Nachtrag ganz unten.)

Wir hatten ja bislang auch noch geglaubt, annehmen zu dürfen, daß die Ausbreitung der indogermanischen Kultur und Religion in Griechenland auch weitgehend friedlich hätte erfolgt sein können (Stgen2023). Davon wird nun keine Rede mehr sein können. Denn auch die Ausführungen der Archäologen zu den Vorgängen um 2.200 v. Ztr. werden nun plötzlich wesentlich prononcierter. Sie sind sich nun - mit der Archäogenetik - plötzlich ihrer Sache sehr viel sicherer zum Thema "The coming of the greeks", zur Entstehung der antiken Griechen - und schreiben nicht mehr mit so vielen Einschränkungen und "Wenn und aber" (1).

Abb. 2: Der Steppengenetik-Herkunftsanteil in Griechenland, auf den ägäischen Inseln und in Kreta 1800 bis 900 v. Ztr. (aus: 1)

Das alles ist sehr aufsehenerregend. Denn all das heißt, daß die späteren acht Prozent nicht den Anteil repräsentieren, mit dem sich die indogermanische Genetik ursprünglich um 2.200 v. Ztr. in Griechenland und auf den griechischen Inseln ausgebreitet hat. Allerdings während der Bronzezeit nicht - siehe Abb. 2 - auf die Insel Salamis!

Vielleicht ist die Insel Salamis schon ein Hinweis. Es mag nämlich Regionen gegeben haben, in die die Steppengenetik bis um 900 v. Ztr. gar nicht gekommen war. Und in dem überregionalen Austausch nach 900 v. Ztr. mag es zur Verminderung des durchschnittlichen Steppengenetik-Anteils gekommen sein. Jedenfalls ist nun ist eben erklärungsbedürftig, wie es so einheitlich zu jener Verringerung auf acht Prozent gekommen ist, die ab 800 v. Ztr. so weit verbreitet im östlichen Mittelmeerraum sichtbar ist.

Auch in Attika 20 % Steppengenetik!

Auch Menschen des spätbronzezeitlichen Glyka Nera (Wiki) (1400 bis 1325 v. Ztr.), 14 Kilometer östlich der Akropolis von Athen gelegen, sind auf ihre Genetik untersucht worden (1, Anh., S. 41). Es liegt auf der anderen Seite des dazwischen liegenden, über tausend Meter hohen Hymettos (Wiki), der von vielen Dichtern besungenen worden ist (siehe etwa ganz oben von Hölderlin). Diese Menschen weisen einen Steppengenetik-Anteil von über 20 % auf (Abb. 2)!!!

Also war es eine voreilige Annahme in der Studie vom September 2022, die Möglichkeit zu unterstellen, daß sich der Steppengenetik-Anteil in Attika anders entwickelt haben könnte als sonst im südlichen Festlandgriechenland. Die Gräber dieser Menschen zeigen im übrigen - wie auch sonst im südlichen Festland-Griechenland dieser Zeit - kulturelle minoische Einflüsse (1, Anh., S. 41). Es ist das die beginnende Spätbronzezeit, in der man damals in vielen Teilen Europas aufgrund des Bevölkerungswachstums anfing, Terrassierungen anzulegen. Das machten damals die Mykener in Griechenland ebenso wie die keltischen Stämme in Franken (Stgen2021).

Es ist ja auch denkbar, daß mit diesen kulturell minoischen Einflüssen zugleich auch zusätzliche ursprüngliche, einheimische Genetik nach Festland-Griechenland gekommen ist, etwa durch den Sklavenhandel.

Die neue Studie zeigt dann nämlich auch, daß die indogermanische Steppengenetik nach Kreta deutlich später gekommen ist als nach dem südgriechischen Festland, nämlich erst ab dem 17. Jahrhundert v. Ztr. allmählich anwachsend. Die Autoren schreiben (1):

Wir zeigen außerdem, daß diese genetische Signatur in Kreta allmählich mehr vom 17. bis 12. Jahrhundert v. Ztr. auftritt, in einer Zeit, in der sich der Einfluß des Festlands auf die Insel intesiviert hat.
We additionally show that such genetic signatures appeared in Crete gradually from the seventeenth to twelfth centuries bc, a period when the influence of the mainland over the island intensified.

Auch diese neue Erkenntnis macht nun die Archäologen viel sicherer in ihrer Darstellung sowohl des Kulturaustausches zwischen Kreta und dem Festland wie auch in der Darstellung der politischen Wechselverhältnisse zwischen beiden Regionen. 

Viele Verwandtenehen, insbesondere auf den Inseln

Außerdem wird folgender Umstand festgehalten (1):

Die biologische und kulturelle Zusammengehörigkeit innerhalb der Ägäis spiegelt sich auch in dem Umstand wieder, daß Verwandtenehen in einer so großen Häufigkeit wie hier bislang nirgendwo sonst im weltweiten Datenbestand der Archäogenetik gefunden worden sind.
Biological and cultural connectedness within the Aegean is also supported by the finding of consanguineous endogamy practiced at high frequencies, unprecedented in the global ancient DNA record.

Die Forscher stellen Ehen zwischen Cousin und Cousine ersten Grades in der Ägäis bis zur Spätbronzezeit fest für knapp 30 % aller bisher sequenzierten Genome, wobei die Häufigkeit auf den Inseln der Ägäis etwas höher ist als auf dem Festland (MPG, bzw. HeritageDaily):

"Mehr als tausend vorgeschichtliche Genome von unterschiedlichen Teilen der Welt sind inzwischen veröffentlicht worden - aber es scheint, daß es ein solches striktes System von Verwandtenheirat nirgendwo sonst in der vorgeschichtlichen Welt gegeben hat," sagt Eirinin Skourtanioti, der Hauptautor der Studie, der die Analysen leitete. "Das war für uns vollständig überraschend und wirft viele Fragen auf."
Original: "More than a thousand ancient genomes from different regions of the world have now been published, but it seems that such a strict system of kin marriage did not exist anywhere else in the ancient world," says Eirini Skourtanioti, the lead author of the study who conducted the analyses. "This came as a complete surprise to all of us and raises many questions."

Damit ist womöglich auch die Frage aufgeworfen, ob das hohe Begabungsspektrum bei den antiken Griechen durch diese viele Endogamie und durch diese vielen Verwandtenehen gefördert worden ist. Durch eine solche Heiratsweise wird ja Selektion auf die in wenigen Familien vorherrschenden angeborenen Eigenschaften hin gefördert. Auch für die aschkenasischen Juden gibt es Vermutungen und Hinweise, daß starke Endogamie und Verwandtenehen den hohen angeborenen IQ förderte, der dieses Volk weltweit diesbezüglich einzigartig macht zugleich mit einem gehäuften Anteil von Erbkrankheiten. Ähnliches könnte demnach auch für die antiken Griechen gelten. Das stünde, so Mitautor Stockhammer (NYPost) ...

... im Gegensatz zur eurpäischen Bronzezeit, in der Frauen oft hunderte von Kilometern reisten, um zu heiraten.
In contrast to Europe’s Bronze Age, where women would often travel hundreds of miles to wed, Stockhammer noted that there is very little room in Greece to move or grow things. Common crops of the region, such as grapes and olive oil, can take decades to successfully cultivate - thus marriage between family members would ensure the land is kept with future descendants.

In vielen antiken Kulturen des Vorderen Orients spielte der Inzest eine größere Rolle (Wiki), auch etwa in Ägypten oder Persien. Und all dies läßt damit auch Inzest-Schicksale wie das des Königs Ödipus historisch wahrscheinlicher werden als man das sonst hätte annehmen können. Auch können damit manche Ursprungsmythen in den Gesängen des Orpheus, in denen ebenfalls Inzest eine große Rolle spielt (Stgen2022), geschichtlich besser zugeordnet werden.

Der große geschichtliche Überblick

In welchen geschichtlichen Zusammenhängen sich das alles vollzogen hat, wird schon in der Einleitung der neuen Studie in einem hervorragenden Überblick dargestellt, der prononcierter ist als wir das jemals irgendwo gelesen haben, nämlich über die Geschichte des griechischen Festlands und von Kreta für die Zeit ab 3.000 v. Ztr.. Als nächster großer Abschnitt in der Völkergeschichte nach Einführung des Ackerbaus wird nämlich benannt (1):

Während der frühen Bronzezeit (zwischen 3100 und 2.000 v. Ztr.) entstanden komplexe Gesellschaften, charakterisiert durch ausgefeilte Architektur, Metallverarbeitung, Siegel-Systeme und durch die Integration der Ägäis in die Austauschnetzwerke des östlichen Mittelmeerraumes. Während des späten 3. Jahrtausends v. Ztr. erlebte das griechische Festland einen ernsthaften gesellschaftlichen Zusammenbruch (am Ende des Frühhelladikums II) mit bleibenden Auswirkungen bis in die spätere Mittelhelladische Zeit des frühen zweiten Jahrtausends. (...) Kreta hingegen scheint keine vergleichbare Zeit des Niedergangs erlebt zu haben. Mit der Entstehung der ersten Paläste während des 19. Jahrhunderts v. Ztr. in der mittelminoischen Zeit gab es in den Inselgesellschaften einen Wandel, der mit einer bis dahin nie gekannten Verfeinerung sowohl in der Kunst wie in der Architektur wie auch in den sozialen Lebensformen einher ging.
Nur wenige Jahrhunderte später, während der späten Mittleren Bronzezeit (dem Mittleren Helladikum auf dem Festland) entstehen die ersten reich ausgestatteten Schachtgräber der lokalen Eliten im südlichen Festland-Griechenland, die oft minoische Einflüsse wiederspiegeln. Der Wettstreit zwischen den aufsteigenden Eliten während der Schachtgräber-Periode führte zu regionalen Konflikten und kulminierte im Niedergang vieler lokaler Herrschaften auf dem griechischen Festland und möglicherweise in einer ersten Militärexpedition des Festlandes nach Kreta während des 15. Jahrhunderts.  
The next major transformation in Aegean prehistory took place during the Early Bronze Age (EBA; about 3100–2000 bc). Complex societies emerged, characterized by sophisticated architecture, metallurgy, sealing systems and the integration of the Aegean in the Bronze Age Eastern Mediterranean networks of exchange. During the late third millennium bc, the Greek mainland witnessed a severe societal breakdown (at the end of Early Helladic II) with lasting impact until the later Middle Helladic period of the early second millennium. (...) Crete does not seem to have suffered a comparable period of decline. With the emergence of the first palaces during the nineteenth century bc in the Middle Minoan period, the island’s societies transformed into a hitherto unknown sophistication in art, architecture and social practices.
Only a few centuries later, during the late Middle Bronze Age (MBA; Middle Helladic for the mainland), the first rich shaft graves of local elites appeared in southern mainland Greece, often displaying Minoan influences. The competition between rising elites during the Shaft Grave period led to regional conflicts and culminated in the decline of many local dominions on the Greek mainland and possibly a first mainland military expedition to Crete during the fifteenth century. 

Was für ein ungeheuer differenziertes Bild plötzlich. Fachleuten mag dies schon länger so vor Augen gestanden haben. Als weitgehender Laie darf man sich durch und durch überrascht zeigen. Hier wird geradezu "Geschichte" geschrieben von Seiten der Archäologen für weitgehend schriftlose Zeitepochen und Kulturen. An späterer Stelle heißt es dazu ergänzend (1):

Der gesellschaftliche Umbruch, der sich in der Ägäis und auf dem Balkan während des späten 3. Jahrtausends v. Ztr. manifestiert in Form von Siedlungs-Abbruch kann in Beziehung gesetzt werden zu einem Zusammenbruch der sozialen Strukturen und/oder zu klimatischen Herausforderungen.
The disruption of life that is manifested in the Aegean and the Balkans via settlement dislocation during the late third millenium bc could be related to a breakdown of social structures and/or climatic challenges.

Weiter heißt es in der Einleitung (1):

Am Ende dieses Konfliktes begann die Palast-Zeit (Spätes Helladikum IIIA-B) mit einigen wenigen bedeutenden politischen Zentren in Mykene, Tiryns, Pylos, Athen, Hagios Vasileios in Lakonien, Theben, Orchomenos und Dimini - um nur einige der bedeutendsten zu nennen. Während dieser Zeit intensivierte sich der Einfluß von Festland-Zentren auf Kreta. Und mit der Hilfe von politischen Schlüsselzentren der Palastzeit wie Knossos, Hagia Triada und Chania wurden die Ressourcen auf Kreta systematisch ausgebeutet bis hin zu Außenposten für die Verwaltung von großen Teilen der Insel.
At the end of this conflict, the palatial period (Late Helladic IIIA-B) started with a few eminent polities centred in Mycenae, Tiryns, Pylos, Athens, Hagios Vasileios in Laconia, Thebes, Orchomenos and Dimini - to name only the most prominent ones. During this time, the influence on Crete by mainland centres intensified and Cretan resources were systematically exploited with the help of turning key palatial centres and cities like Knossos, Hagia Triada and Chania into outposts for the administration of large parts of the island.

Was für eine reiche Geschichte hat es in Griechenland gegeben, bevor die uns aufgrund schriftlicher Überlieferungen auch nur ansatzweise bekannte Geschichte des antiken Griechenland überhaupt erst begann! Diesen Umstand kann man sich gar nicht deutlich genug vor Augen führen. Wir können nun 2000 Jahre Geschichte des antik-griechischen Volkes in der Zusammenschau sehen (2.200 bis 200 v. Ztr.)! Daß sich in diesen vielen Jahrhunderten viele Götterkulte ausbreiten konnten, entstehen konnten, viele Heldengeschichten erzählt werden konnten, eben sich die ganze kulturelle Vielfalt hat ausbilden und weiter entwickeln können, die wir im klassischen Griechenland schließlich antreffen - all das wird nun "handgreiflicher" und leichter nachvollziehbar, liegt nicht mehr so im wabernden Dunkel und Nebel der Geschichte wie zuvor.

Abb. 3: Landschaftseindruck von Glyka Nera östlich von Athen - Die Landschaft dort ist heute stark zersiedelt, da sie zum Großraum von Athen gehört (Fotograf: Dimorsitanos, 2008) (Wiki) - (ein weiterer landschaftlicher Überblick hier: John Gasparis)

Damit wird auch deutlich: Die Archäogenetik gibt den Archäologen eine so große Sicherheit in vielen wesentlichen Fragen, die sie zuvor nicht hatten (die jedenfalls dem Laien nicht aufgefallen ist, weil sie sich zu vielem noch zu vorsichtig und vage ausgedrückt hatten).

Kamen die Indogermanen vom Plattensee?

Die Frage, woher der Steppengenetik-Anteil der mittelbronzezeitlichen Griechen ab 2.200 v. Ztr genauer stammt, ist noch ungeklärt. Dazu wird der folgende weit ausgedehnte mögliche Herkunftsraum benannt (1):

Die am besten passenden Modelle (für die Herkunft des Steppengenetik-Anteils) stimmen mit dem frühbronzezeitlichen Serbien, Kroatien und Italien zusammen, während solche mit spätneolithischer-frühbronzezeitlicher westeurasischer Steppengenetik und mit mitteleuropäischer Herkunft (zum Beispiel spätneolithisch-frühbronzezeitliche Schnurkeramik aus Deutschland) ebenso für alle Gruppen passen würde. Deshalb ist es im Moment noch nicht möglich, die Herkunftsregion genauer einzugrenzen.
Models with Serbia (EBA), Croatia (MBA) and Italy (EMBA) were adequate most of the time, while those with ‘W. Eurasian Steppe En-BA’ (En, Eneolithic) or some Central European source (for example, Germany LN-EBA ‘Corded Ware’) were adequate for all groups at the P ≥ 0.01 cutoff. Therefore, at the moment it is not possible to more closely identify the region(s) from where this genetic affinity was derived.

Stammten die zuwanderenden Griechen womöglich tatsächlich aus - - - Ungarn, wo letztes Frühjahr umfangreiche Abwanderungen in der Zeit um 2200 v. Ztr. durch die Archäogenetik festgestellt worden ist (Stgen2022)? Wäre dort das viel gesuchte "Hyperboräa" zu suchen?

Wenn man es sich recht überlegt, muß das sogenannte "dunkle Zeitalter" in der griechischen Geschichte für den Rückgang des Steppengenetik-Anteils von über 20 Prozent auf acht Prozent verantwortlich gemacht werden. Erst dieser Rückgang hat dann womöglich jene sehr entschiedene Kontrastwertung hervor gebracht, die wir schon in früheren Beiträgen unterstellt und umsonnen hatten, um die Grundantriebe der antik-griechische Kultur zu erklären (Stgen2022), zuletzt eben auch mit dem Geschichtsphilosophen Hölderlin (Stgen2023).

Auf den X-Chromosomen der mittel- und spätbronzezeitlichen Griechen fand sich im Durchschnitt ein geringerer Steppengenetik-Anteil als in ihrem übrigen Genom, was darauf hin deutet, daß mehr Männer als Frauen unter den herein strömenden Indogermanen zum nachfolgenden Genpool beigetragen haben. Allerdings gibt die Verteilung der Y-Chromosomen ein anderes Bild (1):

Nur vier von 30 männlichen Individuen nach dem 16. Jahrhundert v. Ztr. trugen (die berühmte) Y-chromosomale Haplogruppe R1b1a1b. Die übrigen zeugen von einer hohen Häufigkeit von den Y-chromosomalen Haplogruppen J und G/G2. Diese gibt es schon im frühholozänen Iran/Kaukasus und bei den anatolischen und europäischen Bauern und sind ebenso sehr verbreitet im kupferzeitlichen Anatolien und in der Levante.
Only four out of the 30 male individuals dating post-sixteenth century bc (LBA and IA) carry the R1b1a1b Y haplogroup. The remaining - as well as the EBA/MBA ones - attest to the high prevalence of Y haplogroups J and G/G2 (39 and 10 out of 59, respectively [....]). These were already present in Early Holocene Iran/Caucasus and among Anatolian and European farmers and very common in the Chalcolithic Anatolia and the Levant as well.

Das Szenario in Griechenland ab 2.200 v. Ztr. unterscheidet sich also sehr deutlich von den Szenarien in Spanien oder in England zur selben Zeit. In Spanien und England starben so gut wie alle vormals dort vorherrschenden männlichen genetischen Linien aus. In Griechenland lebten sie weiter. Die indogermanischen Eroberer wurden also in die Gesellschaften integriert.

Was geschah in den "Dunklen Jahrhunderten"?

Im Haupttext der Studie wird - soweit übersehbar - mit keinem Wort darauf eingegangen, daß der Steppengenetik-Anteil im südlichen Griechenland bis um 900 v. Ztr. 20 % betrug und danach nur noch 7 %. Ein Hinweis auf diesen bedeutenden genetischen Umbruch, der ja erst durch diese Studie sichtbar geworden ist, und eine Charakterisierung desselben - nach möglichen Ursachen und in Bezug auf denkbare Auswirkungen hin - wäre ebenso wichtig wie die Charakterisierung des genetischen Umbruchs um 2200 v. Ztr. in Festland-Griechenland und ab 1700 v. Ztr. auf Kreta.*)

Somit stellt sich die Frage: Was geschah in den "Dunklen Jahrhunderten" (Wiki) populationsgenetisch im östlichen Mittelmeerraum zwischen Thrakien und Levante? Viele Jahrzehnte lang hat die Wissenschaft eine sogenannte "Dorischen Wanderung" (Wiki) angenommen und angenommen, daß mit ihr die Spartaner in die Pelepones gekommen seien. Oft wurde angenommen, daß gerade erst mit dieser Wanderung der Hauptanteil des "Indogermanentums" nach Griechenland kam, der dann die klassische griechische Kultur ausbildete. Aber diese Hypothese galt schon als überholt, bevor diese neuen archäogenetischen Erkenntnisse gewonnen wurden. Und diese neuen archäogenetischen Erkenntnisse sagen zumindest eines: Wenn es eine dorische Wanderung gegeben hat, dann hat sich mit dieser der Steppenteil im südlichen Festlandgriechenland nicht nur nicht erhöht, sondern sogar deutlich verringert. Hier sind also noch viele Fragen offen.

Haben wir es hier mit einem ähnlichen Phänomen zu tun wie am Übergang zwischen dem europäischen Früh- und Mittelneolithikum, als es auch fast überall in Europa zu einem Wiederanstieg der vormals einheimischen Jäger-Sammler-Genetik kam, die sich in Rückzugsräumen, auf den Höhenlagen der Mittelgebirge zum Beispiel noch über Jahrtausende lang hielt, während rundherum schon anatolisch-neolithische Genetik verbreitet war? Man wird sehr gespannt sein dürfen, welche Erklärung die Wissenschaft dafür finden wird. 

Abb. 4: Studie zum Kopf des Ödipus - von Gustave Moreau (1826-1898), um 1860 (Wiki) - Seine Geschichte entstammt einer Lokalsage Thebens. Das Entsetzen über die Ehe mit seiner Mutter oder Stiefmutter könnte auch erst eine Zutat späterer Generationen sein (Wiki)**)

Aber vielleicht ist das Auftauchen dieser neuen Fragestellung eine gute Gelegenheit, einen seit November 2021 im Entwurf vorliegenden Blogartikel hier mit einzufügen. Er behandelt zwar nicht mehr das Kernthema der bisherigen Ausführungen, läßt aber noch einmal den geschichtlichen Rahmen etwas deutlicher hervor treten, der zu diesen Vorgängen vermutlich dazu gedacht werden muß.

"Griechische Sozialgeschichte" (1981)

1981 erschien eine "Griechische Sozialgeschichte", verfaßt von dem aus Innsbruck stammenden Althistoriker Fritz Gschnitzer (1929-2008) (Wiki), der von 1962 bis 1997 an der Universität Heidelberg lehrte. (Wir entdeckten es in der mitten im historischen Zentrum der Stadt Bamberg am Flußufer in einem historischen Gebäude beheimateten Lehrbuchsammlung des Historischen Seminars der Universität Bamberg.) Gschnitzer unterteilte diese Sozialgeschichte in die folgenden vier Hauptabschnitte (2): 

I. Die mykenische Zeit
II. Die homerische Zeit
III. Die archaische Zeit
IV. Die klassische Zeit.

Das wesentliche dieser Unterteilung für uns ist die selbstverständliche Benennung des II. Kapitels als "Die homerische Zeit". Für diese Zeit gibt es fast nur eine einzige Schriftquelle, nämlich die Dichtungen des Homer. Da in dieser Dichtung sehr zuverlässig und auch vom Sachgüter-Bestand her eine Welt geschildert wird, wie sie mehrere Jahrhunderte zuvor bestanden hat, stellt sie keineswegs den Ethos und die Lebensart der Zeit ihrer Niederschrift dar, sondern die der "Dunklen Jahrhunderte" nach 1200 v. Ztr..

Auch Geschnitzer geht noch davon aus, daß es durch die "Dorische Wanderung" noch viele ethnische Verschiebungen gegeben habe (2, S. 24f):

Es war also (...) bis in mykenische Zeit nur ein Teil der griechischen Stämme schon in ihre späteren Sitze eingewandert; andere saßen noch weiter im Norden. (...) Auf der Peloponnes waren die Griechen weit fester eingewurzelt.

Gemeint ist, sie waren "weiter" fest eingewurzelt im Gegensatz zu Kreta. Denn auf Kreta waren sie erst im Laufe der mykenischen Zeit (das ist zugleich die spätminoische Zeit) als Eroberer gekommen. Über die mykenische Zeit lesen wir außerdem (2, S. 23):

So unbestimmt nun auch unsere Vorstellungen von der Ausdehnung der mykenischen Herrschaftsgebiete sein mögen, so viel ist doch deutlich, daß sie erheblich größer waren als die meisten der späteren griechischen Staaten, wie sie uns seit der archaischen Zeit bekannt sind; man vergleiche insbesondere das eine ganz Kreta umfassende Reich mit den zahllosen freien Städten, die seit der homerischen Zeit auf der Insel belegt sind.

Es wird weiterhin zur mykenischen Zeit ausgeführt (2, S. 26):

Die Naturalwirtschaft dominiert: die vielen Bediensteten des Palastes erhalten, soweit sie nicht mit Land versorgt werden, Lebensmittelrationen, nicht etwa Gehälter in Geld (Metallen); auch die Steuern werden in Naturalien entrichtet. Daneben spielt freilich ungemünztes Metall (Edelmetalle und Bronze) als Zahlungsmittel (...) eine ähnliche große Rolle wie im Alten Orient und später bei Homer.

Und weiterhin (2, S. 38):

Die Zunahme der Siedlungsdichte ist nun auch archäologisch gut nachzuweisen: aus der mittelhelladischen Zeit, d. h. aus der 1. Hälfte des 2. Jahrtausends v. Ztr., sind in Messenien 50 Fundplätze bekannt, aus der späthelladischen (=mykenischen) Zeit dagegen 137.

Dieses Bevölkerungswachstum ist auch gut erkennbar an den weit verbreiteten, spätbronzezeitlichen Terrassierungen (wie oben erwähnt). Und weiter (2, S. 39):

Mitten in diesen Prozeß des Ausbaus und Umbaus einer sich schnell weiter entwickelnden, reichen Kultur und Gesellschaft ist die Völkerwanderung eingebrochen, die in einer Reihe von Katastrophen dem Glanz und schließlich dem Bestand der mykenischen Welt ein Ende bereitet hat.

Und wir lesen weiter (2, S. 51):

Denn von dem umfangreichen Beamtenapparat der mykenischen Paläste hat sich in diese Zeit nichts gehalten.

In diesen Umständen deutet sich jener Kulturwechsel an, der durch den Seevölkersturm um 1200 v. Ztr. stattgehabt haben muß, der aber - offenbar - ganz ohne Einfluß geblieben ist auf die kulturelle Eigenwahrnehmung der Griechen, die einfach nur - weiterhin - glanzvolle Zeiten erlebten. Das mutet zwar widerspruchsvoll an. Aber womöglich liegt gerade in diesem Widerspruch der Reiz dieses Epochenwechsels.

Die "Ilias" stellt also das Erleben der Griechen dar wie es sich ergeben hatte in den Jahrhunderten nach 1200 v. Ztr. aber noch vor der Lebenszeit des Homer, der um 750 v. Ztr. lebte. In der "Ilias" ist aber nicht der leiseste Anklang von Umwälzungen, wie sie um 1200 v. Ztr. stattgehabt haben müssen, zu finden. 

Die freien Gefolgsleute der homerischen Helden - etwa Patroklos als Gefolgsmann des Achill - werden von Gschnitzer als "primitive Anfänge einer Beamtenschaft" gedeutet. Gschnitzer arbeitet auch sonst sehr gut die Unterschiede heraus der homerischen Zeit sowohl zu der Zeit zuvor wie auch zu der Zeit, die ihr folgte. So schreibt er etwa (2, S. 57):

... In anderer Hinsicht erweisen sich unsere homerischen Helden eben doch als Bauern. Die Landwirtschaft ist nicht nur ihre wichtigste Lebensgrundlage, sie arbeiten auch selbst mit. Es ist für den homerischen Helden ebenso selbstverständlich und ehrenvoll, daß er Sichel und Pflug, wie daß er die Waffe zu führen versteht. Ihre Jugend pflegen diese Helden zu einem großen Teil als Hirten (ihrer väterlichen Herden) auf den Bergen zu verbringen; und wenn einer so geschickt und vielseitig ist wie Odysseus, dann kann er sich selbst ein schönes Möbelstück anfertigen, ja im Notfall ein Schiff zimmern. Auch die Frauen dieser Großen arbeiten fleißig mit: (...) besondere Kunstfertigkeit im Weben und Schneidern ist, neben Schönheit und vornehmer Abkunft, der größte Ruhmestitel einer Frau. Die manuelle Arbeit ist also in diesen Kreisen, anders als in den griechischen Oberschichten späterer Zeiten, hoch angesehen.

Wir haben es bei der Epoche, die sich in der "Ilias" wiederspiegelt, grob mit der Zeit 1200 bis 750 v. Ztr. zu tun. Diese Zeit stellte im Vergleich zur mykenischen Palastzeit eine Verfallszeit dar. Sie war aber zugleich - nach dem sehr eindeutigen Zeugnis der "Ilias" - in der Eigenwahrnehmung der Griechen voller Glanz.

Exkurs: Der Königswagen des Gilgamesch - von Mauleseln gezogen

Wie genau mündliche Überlieferung von Epen über viele Jahrhunderte hin sein kann, dafür sei im Vorübergehen noch ein Beispiel aus einem ganz anderen Kulturkreis heran gezogen: Der einzige prächtige, geschmückte Königs-Wagen, der im berühmten, eindrucksvollen, etwa um 800 v. Ztr. nieder geschriebenen - aber nach der Forschung viele Jahrhunderte älteren - babylonischen Gilgamesch-Epos (Wiki) erwähnt wird, ist ein Wagen, der von Mauleseln gezogen wird (Text)!***) Und doch ist er bestimmt für den "Held der Helden", für Gilgamesch. Dies zeigt, daß die bronzezeitliche babylonische Kultur des Zweistromlandes ursprünglich eine ganz andere Kriegstechnik kannte. Vielleicht ist auch an diesem Umstand ablesbar, wie alt das Epos sein muß und wie zuverlässig sein Inhalt - schriftlich - überliefert worden ist. Zugleich ist zu erfahren (Wiki):

Wurden von den Sumerern im 3. Jahrtausend v. Chr. noch schwere zwei- oder vierrädrige Wagen mit Scheibenrädern eingesetzt, so wurden ab dem 2. Jahrtausend v. Chr. zweirädrige Streitwagen mit Speichenrädern genutzt. Sie waren bis etwa zum 5. Jahrhundert v. Chr. allgemein verbreitet.

Auch dies wird man als einen Hinweis darauf gelten lassen dürfen, daß das Gilgamesch-Epos deutlich älter ist als die Ilias, nämlich daß es - wohlgemerkt: in präziser schriftlicher Überlieferung - aus dem 3. Jahrtausend v. Ztr. überliefert worden ist. Der von Pferden gezogene Streitwagen kam erst ab 1700 v. Ztr. mit den Hyksos nach Ägypten und mit den Mittanni nach Sumer (Wiki). 

Abb. 5: Kampfszene auf einem Siegelstein aus dem Grab des Greifenkriegers (Wiki) bei Pylos in Westgriechenland, 2015 entdeckt (1450 v. Ztr.). Der Siegelstein ist nur 3,4-Zentimeter lang. Die ganze Szene wirkt in einem außergewöhnlich faszinierenden Maße "modern", geradezu Jugendstil-mäßig (oder ähnlich)

Soweit unser Entwurf von 2021. 

Aber auch mit diesen Ausführungen haben wir noch so gut wie gar nichts darüber verstanden, warum vor 1200 v. Ztr. - auch in Attika - ein Steppengenetik-Anteil von 22 Prozent vorgeherrscht hat und sich die Griechen ab 700 v. Ztr. nur noch mit acht Prozent Steppenanteil über den Mittelmeer-Raum ausgebreitet haben. 

Sollten die "Seevölker" tatsächlich aus Mitteleuropa oder gar aus Nordeuropa stammen, wofür wir hier auf dem Blog den einen oder anderen Hinweis zusammen getragen haben (zuletzt: Stgen2019), so hätten sie überraschend wenig von ihrem höheren Steppengenetik-Anteil im östlichen Mittelmeer-Raum zurück gelassen. Viel mehr hätten gerade sie zu seiner Verminderung beigetragen. Da hätten dann Laienforscher wie Jürgen Spanuth (1907-1998) (Wiki) dann doch einmal Anlaß, droben im Himmel mancherlei ihrer Sichtweisen differenzierter zu fassen (um uns zurückhaltend auszudrücken).

Es ist also alles noch sehr stark im Fluß und man wird auf weitere Erkenntnisse in näherer Zukunft gespannt bleiben dürfen.

Unterschiedliche Heiratskreise im mykenischen Griechenland?

Nachtrag 25.1.23: In unserem Beitrag von vor vier Monanten haben wir eine genauere Auseinandersetzung mit den mykenischen Griechen inzwischen nachgetragen (Stgen2022). Die Kernsätze dort lauten nun (nach den Angaben in der dort behandelten "Southern Arc"-Studie): Acht Menschenfunde aus mykenischer Zeit im südlichen Griechenland weisen 20 % Steppengenetik oder mehr auf, noch mal acht weisen 10 bis 15 % Steppengenetik auf. Und eine ähnliche Zahl weist null Prozent Steppengenetik auf. Die ursprünglich in Griechenland einheimische Bevölkerung, zum Beispiel die Pelasger, lebten also womöglich in Teilen auch noch in mykenischer Zeit unvermischt weiter. So wie es ja auch in Sparta und Messenien noch lange Bevölkerungsteile gab, die ausdrücklich keine Spartaner waren, zum Beispiel die Heloten.

Aber auch gar zu einfach gestrickte Aufteilung unterschiedlicher Herkunft auf soziale Schichten findet sich im mykenischen Griechenland nicht. Aber wenn bei den mykenischen Griechen - wie wir in diesem Beitrag oben gesehen haben - ein hoher Anteil der Ehen Verwandtenehen war, dann wird man vielleicht annehmen können, daß bestimmte genetische Herkunft (Steppen-Herkunft oder Abwesenheit derselben) auf bestimmte Familien, Heiratskreise beschränkt blieb, ohne daß damit eine soziale Schichtung hätte verbunden sein müssen (Stgen2022). 

Philipp Stockhammer stellt sich in Harvard der Diskussion

Weiterer Nachtrag 25.1.23: Philipp Stockhammer, einer der Autoren der Studie, referierte im November 2022 an der Harvard-Universität in Boston Teile der Forschungsergebnisse der hier behandelten neuen Studie. Im Publikum saßen David Reich und viele seiner Mitarbeiter, die am Ende des Vortrages eine außerordentlich spannende Diskussion mit Stockhammer führten.


Im Anschluß an das Thema Verwandten-Ehen referierte Stockhammer auch Inhalte (4; ab 32'14), die womöglich noch gar nicht veröffentlicht sind, die man aber mindestens ebenso super spannend finden kann. Nämlich Erkenntnisse aus einem Familien-Schachtgrab in Nea Styra auf Euböa aus dem Frühhelladikum II um 2.700 v. Ztr.. Und zwar über die Vorgänge, die womöglich auch dazu führten, daß sonst im Mittelmeer-Raum - etwa auf Sardinien - eine ausländische Elite die einheimische Bevölkerung unterwarf (s. Stgen2021). Womöglich ist Ähnliches auch in Griechenland geschehen, wie hier deutlich wird.

Zwei Menschen sind in diesem Grab begraben, die die traditionelle ägäisch-neolithische Herkunft in sich tragen. Drei Menschen sind in demselben Grab begraben, die eine andere Herkunft in sich tragen, nämlich eine solche anatolisch-kupferzeitlich-bronzezeitlicher genetischer Signatur. Sie haben keine genetische Herkunft aus der Ägäis. Alle Menschen stammen nach der Radiocarbon-Datierung aus derselben Zeitstufe. Das paßt zu archäologischen Annahmen über das Hereinkommen von neuen Technologien (schnell drehende Töpferscheibe) und von Menschen von Anatolien oder Levante aus in die Ägäis und in den Mittelmeerraum hinein während der Frühbronzezeit.

Danach (ab Minute 35'00) referiert Stockhammer die Eroberung Kretas durch die Festland-Griechen in der Zeit um 1600 v. Ztr., wobei er noch einmal deutlicher heraus stellt, daß die Festland-Griechen sich vor allem in den damaligen "Ballungszentren" angesiedelt haben, während die ursprünglich einheimische Bevölkerung in abgelegeneren Siedlungsräumen weitgehend unvermischt weiter lebte.

Womöglich ist die anschließende Diskussion noch spannender als der Vortrag selbst. In ihr werden viele neue Fragen aufgeworfen und Einsichten vermittelt. Etwa daß erste Daten darauf hinweisen, daß sich in der Frühbronzezeit sowohl Gruppen aus Anatolien wie aus der Levante im Mittelmeerraum ausbreiteten. Und noch mehr die Vermutung, daß ab 1300 v. Ztr. das Steppen-Signal auf Kreta so stark ist, daß es womöglich nicht allein mit dem Hereinkommen von Festland-Griechen erklärt werden kann, sondern daß ggfs. auf das Hereinkommen von Menschen aus Süditalien oder gar aus dem Balkan nach Kreta, womöglich also der Seevölker (!). 

Die Tatsache, daß sich David Reich am Anfang der Diskussion zu der Verwandtenehen-Thematik so engagiert eingebracht hat, zeigt, daß ihn dieses Thema brennend interessiert. Und dafür gibt es wahrlich viele gute Gründe, von denen wir einige oben schon genannt haben. Er sagt, daß es eine so hohe Dichte von Verwandtenehen sehr wohl auch in anderen kulturellen Zusammenhängen gab oder gibt, etwa im antiken Peru. Ob das wirklich vergleichbar ist, wird sicher in künftigen Forschungen noch genauer heraus gebracht werden. 

Das ganze Video ist also hochgradig zu empfehlen (4). Und man muß den Machern sehr dankbar sein. So geht Wissenschaft. So geht Wissenschaftsvermittlung.

Nachtrag 28.1.23: Das Szenario der Ankunft der indogermanischen Glockenbecher-Leute auf Sardinien ist ja übrigens schon außerordentlich detailliert charakterisiert worden (s. Stgen2021). Womöglich können mancherlei Aspekte des dortigen Szenario's in Parallele gesetzt werden zur Ankunft der Indogermanen in Griechenland.

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*) Aber man muß bedenken, daß diese Studie schon im Mai 2022 zum Review-Verfahren eingereicht wurde, also womöglich noch gar nicht auf die Erkenntnisse jener Studie reagieren konnte, die im September 2022 veröffentlicht worden ist. Haben die Forscher ihre Preprints nicht untereinander ausgetauscht? Vermutlich nicht, denn sonst hätte es ja nahegelegen, beide Studien zu einer zusammen zu fassen oder zumindest auf die Erkenntnisse der jeweils anderen zu reagieren. Womöglich spielt hier auch wissenschaftliche Konkurrenz eine Rolle. Es würde sich dann um Konkurrenz handeln zwischen Harvard und Jena, zwischen der Gruppe um David Reich und der Gruppe um Johannes Krause, von denen doch sonst bekannt ist, daß sie oft eng zusammengearbeitet haben.
**) Nach einer Lokalsage Thebens hat der nachmalige König Ödipus von Theben unwissentlich seinen Vater getötet und seine Mutter geheiratet. Gemeinsam hatten sie die Kinder Antigone, Eteokles, Polyneikes und Ismene. In unterschiedlichen Überlieferungen werden unterschiedliche Verwandtschaftsverhältnisse genannt. Die am häufigsten tradierte Version stammt erst von Sophokles aus der Zeit zwischen 442 und 402 v. Ztr. (Wiki): "Keiner seiner Helden ist schuldlos, und doch trifft sie ein ungerechtes Strafmaß, so daß sie Mitleid verdienen. (...) Sophokles erzielt die psychologische Wirkung seiner Stücke durch die unverhältnismäßige Vergeltung von Fehltaten (...) durch ein Übermaß an Leiden."
***) Hierbei wäre zu prüfen, ob es sich nicht um jene Kunga-Streitesel gehandelt hat, die wir hier auf dem Blog schon behandelt hatten, nachdem sie von der Forschung als eigene Domestikations-Erscheinung erkannt worden sind.

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  1. Skourtanioti, E., Ringbauer, H., Gnecchi Ruscone, G.A. et al. Ancient DNA reveals admixture history and endogamy in the prehistoric Aegean. Nat Ecol Evol (2023). https://doi.org/10.1038/s41559-022-01952-3, 16.1.2023, https://www.nature.com/articles/s41559-022-01952-3
  2. Gschnitzer, Fritz: Griechische Sozialgeschichte. Von der mykenischen bis zum Ausgang der klassischen Zeit. 2. Aufl. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2013 (EA: 1981)
  3. Zeit der Helden. Die "dunklen Jahrhunderte" Griechenlands 1200-700 v. Chr.. Badisches Landesmuseum Karlsruhe. Offizieller Katalog zur Ausstellung im Schloß Karlsruhe 2008/09, Primus 2008
  4. Stockhammer, Philipp (Max Planck-Harvard Research Center for the Archaeoscience of the Ancient Mediterranean [MHAAM]): Family, Foods, & Health in Bronze Age Greece, Harvard University, 28.11.2022, https://youtu.be/GTqGXZksFZw.

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